Was für ein Bühnenfest! Ein neues Stück von Yasmina Reza, dieser großen Schriftstellerin und Dramatikerin, kommt zur Uraufführung. Dieses Mal hat Reza keine Gesellschaftskomödie geschrieben, dieses Mal eskaliert nichts in bitterbösen Dialogen wie in ihrem grandiosen Theatererfolg "Gott des Gemetzels", dieses Mal kreist das Fünf-Personen-Stück um Fragen der Identität. Einfach ein anderer sein, geht das? Sich in Céline Dion verwandeln, auch wenn man ein Jacob ist und die eigenen Eltern einen für verrückt halten, findet man dafür irgendwo einen Raum?
Regisseur Philipp Stölzl bringt das im Münchner Residenztheater erstmals auf die Bühne, wenn es dort anderthalb Stunden lang "James Brown trug Lockenwickler" heißt. Der Regisseur hat seinem Ensemble ein Halbrund mit zwei bühnenhohen Vorhängen geschaffen, die eine Hälfte grün, die andere rot. Auf halber Höhe durchstoßen ihn zwei übergroße Fische, vom einen ist das Vorderteil, vom anderen das Hinterteil zu sehen. Es schaut so aus, als ob sie sich folgen. Schauen sie kurz ins menschliche Lebensaquarium hinein? Denn sie spielen keine Rolle, dienen nur als Kommentar oder Rahmen für das Treiben unter ihnen.
Yasmina Reza greift in "James Brown trug Lockenwickler" auf einen Roman von ihr zurück
Die Eltern fühlen sich wie im falschen Film, können und wollen nicht begreifen, was da in ihrem Sohn vorgeht. Vor allem sind sie zu einem nicht fähig: Jacob als Céline anzusprechen, wie er das gerne hätte. In Obhut der Psychiaterin und in dem geschützten Raum geschieht das Unerwartete. Jacob/Céline trifft auf Philippe, der weiß ist, sich aber für einen Schwarzen hält. Und beide akzeptieren sich als das, was sie sein möchten. Auf der Bühne spürt man zwischen Jacob-Céline und Philippe nicht nur Freundschaft, sondern auch Verliebtheit. War ihre Verfolgungs- und Tanzjagd quer über die Bühne nicht eigentlich ein vornehm inszenierter Akt?
Die Maskeraden des bürgerlichen Lebens
Immer wieder kommt es zu absurden, auch komischen Szenen. Lionel Hunter, der Vater, entpuppt sich hinter der von seiner Frau beschworenen Fassade der Stärke fallweise als großbürgerlicher Jammerlappen oder kleinkindlicher Trotzkopf. Über den langsamen Fahrstil der Psychiaterin macht er sich lustig, bis die Frau ihm gegenüber steht - wechselt dann aber sofort das Fahrwasser und schwenkt auf überfreundlich um, die Maskeraden des bürgerlichen Lebens. Der Schauspieler Michael Goldberg fügt in dieses Mosaik des widersprüchlichen Mannes vorsichtig und zart Nuance um Nuance hinzu. Wohingegen seine Pascaline immerfort zu reiner Hingabe bis zur Selbstaufgabe und darüber hinaus bereit ist. Ob nun ihr Sohn mit dünner Stimme singt und sie dazu tanzt wie im Rockkonzert, ob nun die Psychiaterin spricht und Pascaline gar nicht mehr mit dem Nicken aufhören kann. Die Schauspielerin Juliane Köhler lässt ihre Pascaline immer ein bisschen drüber sein.
So viel also zu den beiden Identitäten, über die sich niemand beschweren würde, die als gefestigt und normal gelten. Völlig klar, bestimmt und ohne Schwanken tritt ihnen ihr Sohn entgegen, der mit dem Jacob nichts mehr zu tun hat, der ganz und gar Céline Dion geworden ist, sich um ihre Stimme sorgt und Kraft sammelt für die große Tournee "Roads To The South". Vincent zur Linden spielt das mit den großen Gesten der Popstars, zart und weich, ein einziges Fließen. Und findet in Johannes Nussbaums Philippe einen wunderbaren Widerpart. Denn sein Philippe hat etwas Kratziges, auch Widerborstiges. Als ob es nicht schon genug Probleme auf der Welt gäbe, bürdet sich Philippe noch jede Menge eigene auf, unter anderem einen Mississippi-Baum, den er wild in einem französischen Park einpflanzt, auf die Gefahr hin, dass der Baum dort herausgerissen wird.
Aschenputtel wird gegen den Strich gebürstet
Und dann gibt es auch noch die Frau ohne Eigennamen, die Psychiaterin, der man zutraut, eigentlich die erste Patientin zu sein. Eine Glanzrolle für Lisa Wagner, die nicht nur die Monologe, sondern auch das Schweigen ihrer Figur zelebriert. Als sie einen Vortrag über die beiden zu Unrecht als böse gebrandmarkten Schwestern von Aschenputtel hält, findet der Abend zu einem prototypischen Reza-Moment. Erst ist das grotesk komisch, aber je länger dieses Märchen gegen den Strich gebürstet wird, desto überzeugender wird die Psychiaterin mit ihrer Umdeutung.
Später lässt Stölzl das eine Mal die Fische in den Abend eingreifen - als Nebelmaschinen. Wenn Céline nur noch in dichten Schwaden zu erahnen ist, wirkt das für Momente, als ob dort nun die echte Dion einen Auftritt bekommt. Da stößt der Abend einen endgültig auf das Absurde in Identitätssetzungen: Die einen hält man für verrückt, die anderen bewundert man. Es gab sie ja schon immer, Menschen, die sich selbst erfanden. Und diejenigen, die Glück und Erfolg haben, thronen über den Normalsterblichen: ob nun Farrokh Bulsara als Freddy Mercury oder Stefani Joanne Angelina Germanotta, besser bekannt als Lady Gaga.
Schönstes Detail ist der Flügel, das Instrument des Abends, ein selbstspielender Flügel, der seine Tasten wie von Geisterhand bewegt, als ob hinter allem ein unsichtbarer Geist an den Fäden der Welt zieht. Nur eines bietet der Abend nicht: Lösungen, Antworten, eine Moral. Reza tippt vieles von dem, was gesellschaftlich diskutiert wird, an. Wie man damit umgeht, darauf muss sich jeder selbst einen Reim machen. Der Begeisterung des Publikums tat das keinen Abbruch: Jubel nicht nur für das starke Ensemble und das Regie-Team, sondern auch für die nach München gereiste Yasmina Reza.