Die Online-Welten bestehen aus Schönheit, Fitness und Eiweißshakes, aus Squats, Crunches und Liegestützen. Vor allem Mädchen ziehen die Optimierungsversprechen in ihren Bann. Manche werden aufgesaugt, bis sich ihr Leben nur noch um Körper, Dünnsein und Nichtessen dreht. In diese Spannungen traut sich das Drama "Extra Zero" von Elisabeth Pape, das das StaatstheaterAugsburg jetzt in der Inszenierung von Blanka Rádóczy zur Uraufführung brachte.
Das Setting ist eine Klinik, "die Institution". Drei Zimmertüren, Kantinentische und -stühle, links ein voll verglastes Schwesternzimmer, aus dem "die Institution" (Julius Kuhn) alle überwacht. Sie ist Pfleger, christlich-verträumte Musiktherapeutin, Geschäftsleitung der Klinik. Sie kontrolliert die Essenseinnahme der Kranken. Essen oder Nichtessen, Leben oder Tod – das sind die Geschichten der drei anonymen jugendlichen Patienten (Sarah Maria Grünig, Mirjana Milosavljevic, Thomas Prazak) und von "Die mit der Pringles-Dose" (Ute Fiedler). Nach langen Kämpfen zu Hause, in der Schule, im Studium sind sie hier gelandet, weil sie mit ihrer Fress-Brechsucht in einer Todeszone gelandet waren.
Lässt sich kontrollfixiertes Ess-Brech-Verhalten mit neuer Kontrolle heilen?
Alles ist reguliert, verboten, individuelle Freiheiten und unbeobachtete Momente gibt es kaum. Und immer noch, wie im vorherigen Leben, dreht sich alles ums Essen. Dabei soll das doch zur Nebensache werden. Ein Teufelskreis. Lässt sich kontrollfixiertes Ess-Brech-Verhalten mit neuer Kontrolle heilen? In Abständen hört man den Arzt aus dem Off. Kalt, monoton zitiert er aus den Krankenakten: "Hoch belastete Jugendliche, schwache Fähigkeit zur Konfliktbewältigung, Affektstörung." Oben an der Wand erscheint plötzlich wie ein Deus ex Machina der Influencer Strong&Beautiful (Florian Gerteis). Unablässig plaudernd erklärt er via Handybildschirm, der per Videoprojektion an die Wand geworfen wird, worauf zu achten ist bei der Körperperfektion: regionales Essen, Bio-Essen, veganes Essen und vor allem Disziplin.
Derweil setzt sich unten auf der Bühne mühsam die Therapie fort. Die Gewichtskurve muss rauf. Zielvorgabe: 800 Gramm pro Woche, 50 Kilogramm Endgewicht nach einem halben Jahr. Die Waage links ist der Angstraum schlechthin. Dreimal in der Woche zeigt sich hier öffentlich, wer die Norm erfüllt, wer nicht. Geht die Kurve runter, wird das Zimmer durchsucht, kontrolliert, ob irgendwo Spuren von Erbrechen zu finden sind.
Die Jugendlichen misstrauen der Institution, dass alle Portionen gleich groß sind. Doch, alle Portionen seien gleich. "Nein, sind sie nicht", schreien die Kranken im Chor. Im harten, synchronen Stakkato-Sprechgesang fragen sie sich, wie es so weit kommen konnte: "Wie sind wir nur zu dem geworden, was wir sind?"
Weitere Aufführungen auf der Brechtbühne des Staatstheaters Augsburg
Zu Hause hätte sie geschlafen, sagt "Die-mit-der-Pringles-Dose". Oft zwölf Stunden am Tag. Wenn sich der Körper mit Gier meldete, verschlang sie Schokolade, Gummibärchen und eben Pringles. Als ihre Mutter sauer wurde wegen des verschwendeten Geldes, weil sie alles wieder ausspuckte, begann sie heimlich zu brechen. In die Pringles-Dose.
Im gleißenden Licht fragen sie sich im Chor nach Schuld. Waren es die Eltern mit ihren Ansprüchen, dass das Kind immer besser, schlauer, erfolgreicher, schön und perfekt sein sollte? Auch der ideale Influencer oben in der Handy-Projektion bröckelt. Strong&Beauty hat zugenommen. Kein Problem, damit komme er klar. Oder doch nicht. Wahrscheinlich hat die Schilddrüse Schuld, überlegt er, vielleicht mal zum Arzt? Ausflüchte. Dabei weiß er, er muss essen, um zu leben. Vor allem aber will er dünn bleiben.
Die Uraufführung des Schauspiels, für das Elisabeth Pape vor kurzem den Kleist-Förderpreis erhielt, zeigte viel Ernst, aber auch dramaturgisch gut dosierten, schwarzen Humor. Florian Gerteis und Julius Kuhn mit ihren Fitnesseinlagen und die überzeichnete Musiktherapeutin (Julius Kuhn) mit ihren albernen Klangstäben und Jesus-Liedern boten dem Publikum Verschnaufpausen vom harten Stoff. Langsam legen sich die Gefühlslagen der Protagonisten auf die zuschauenden Beobachter, bis klar wird: Diese Krankheit endet nicht wie andere Süchte. Dazu ist das Essen zu sehr zum Statussymbol, zum fast schon religiösen Lifestyle geworden. Die Autorin, die zur Uraufführung aus Berlin angereist war, ist mehr als zufrieden. "Die Umsetzung hat mich sehr, sehr beeindruckt. Vor allem die Idee mit den Videoclips als zweite Ebene. Das bringt eine ganz eigene, neue Spannung", erklärt die 27-jährige Theaterwissenschaftlerin.
Weitere Aufführungen Am 5. und 7. Juli auf der Brechtbühne des StaatstheatersAugsburg.