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Ulm
Kann Fremde zur Heimat werden? "Iphigenie auf Tauris" am Theater Ulm
Goethes "Iphigenie auf Tauris" stellt am Theater Ulm die große Frage nach der Humanität. Aber wie lässt sich ein Drama um eine mythologische Figur heute auf die Bühne bringen?
Dagmar Hub
 |  aktualisiert: 14.03.2024 02:56 Uhr

Humanität ist ein viel gebrauchter Begriff der Gegenwart. In wohl kaum einem Bühnenwerk wird das Humanitätsideal so edel und umfassend dargestellt wie in Goethes 1779 verfasstem Drama "Iphigenie auf Tauris", das wiederum auf Stoff des vorchristlichen griechischen Dichters Euripides zurückgreift. Jessica Sonia Cremer inszeniert das Werk für das Große Haus des Theaters Ulm mit einer überzeugenden Stefanie Schwab in der Titelrolle. 

Über Generationen reicht der Fluch: Goethes "Iphigenie" am Theater Ulm

Blut ist dicker als Wasser: Die auf das Alte Testament zurückgehende Redewendung wird heute benutzt, um auszudrücken, dass sich Blutsverwandte stärker miteinander verbunden fühlen als beispielsweise Freunde, gerade in Krisenzeiten. Und im Krisenmodus befindet sich die Familie von Iphigenie, seit ihr Vorfahr Tantalos, einer Liebesnacht zwischen Zeus und Omphale entsprungen, seinen Sohn tötete. Über Generationen reicht der Fluch einer unheiligen Abfolge von innerfamiliärer Gewalt, von Morden von Familienmitgliedern an anderen solchen. Vor diesem Hintergrund muss man Goethes Iphigenie-Figur sehen, um zu begreifen, weswegen sie alle Chancen ausschlägt, die ihr in der neuen Heimat bei den Taurern auf der heutigen Krim gegeben sind – Einfluss und Ansehen, Freundlichkeit und letztlich der Wunsch des Königs Thoas, sie möge seine Frau werden. 

Die Frage, ob die Fremde zum Vaterland werden kann, beantwortet Iphigenie für sich mit einem Nein, obwohl sie von den Tauriden mit offenen Armen als Geschenk der Götter empfangen worden war. Sie fühlt sich fremd, sucht auch nach Jahren das Land der Griechen mit der Seele und nimmt mit stillem Widerwillen hin, dass die Göttin Diana – die sie rettete – sie hierhin geschickt hat. 

Kann Fremde Heimat werden? Jessica Sonia Cremer inszeniert die Iphigenie

Kann man ein Drama um eine ideale mythologische Figur heute noch auf die Bühne bringen? Goethes "Iphigenie auf Tauris" wird, wiewohl in Schulen noch viel gelesen, nur noch wenig aufgeführt. Im Theater Ulm war das Große Haus zur Premiere zu etwa zwei Dritteln gefüllt, nach der Pause lichteten sich die Reihen deutlich. Woran das liegen mag? Sitzt dem Publikum die schulische Beschäftigung mit der so reinen mythologischen Figur im Nacken? Jessica Sonia Cremer bringt tatsächlich Aspekte des Stoffes auf die Bühne, die Bezug zum Heute haben: die Entschlossenheit, dem eigenen Herzen und nicht dem Erwartungsdruck zu folgen, auch wenn es persönliche Nachteile bringen kann. Und die große Frage eben, ob ein anderes Land als das der Geburt je wirklich zur Heimat werden kann. Zudem beinhaltet "Iphigenie auf Tauris" das Thema der Abschaffung von Menschenopfern. Iphigenie tut als Priesterin im Diana-Tempel daran, was auch Abraham zugeschrieben wird – auf das Opfern von Menschenleben als Gesetz der Götter zu verzichten und stattdessen andere Opfergaben zu nutzen. 

Dieser Diana-Tempel der Tauriden (Ausstattung: Petra Mollérus) ist einziger Ort der Handlung des zweieinhalbstündigen Abends. Hier spricht Iphigenie – via Mikrofon – mit den Göttern, hier finden alle Begegnungen statt. Die Möblierung ist ziemlich abgewrackt, es geht abwärts mit dieser Kultur. Die Mauern der inneren Einsamkeit, die die zentralen handelnden Personen um sich gebaut haben, bewirken die Abstände zueinander und ein statisches Empfinden. Das ist vermutlich nah an ursprünglicher Aufführungspraxis zum Beispiel im herzoglichen Privattheater in Weimar, wo die Uraufführung 1779 stattfand, und lässt die Figuren distanziert und emotionsarm wirken. 

Stefanie Schwab überzeugt als Iphigenie mit ihrer Körperhaltung

Stefanie Schwab drückt die inneren Kämpfe Iphigenies in der Form ihrer Sprache und in der Körperhaltung aus, die einmal stolz und aufrecht ist, ein andermal gebeugt und mädchenhaft. Der durch Iphigenies Zurückweisung schwer gekränkte Taurer-König Thoas (Stephan Clemens) wirkt im dschungelgrünen Anzug wenig königlich: Sein Stamm wird als barbarisch gezeichnet, nicht zuletzt war es bis zur Ankunft Iphigenies üblich, dass jeder Fremde, der Tauris betrat, als Opfer für die Götter getötet wurde. Vincent Furrer gibt dem an Zuckungen leidenden und todessehnsüchtigen Orest, der sich aufgegeben hat, eine Aura des von Furien Getriebenen am Rande des Wahnsinns. 

Sein Jugendgefährte Pylades ist sein Gegenbild – einer, der mit dem Verstand nach Möglichkeiten der Rettung sucht und der am Leben hängt. Des Königs Boten Arkas verwandelt Jessica Sonia Cremer in eine Art Amazone (Emma Lotta Wegner), waffenstarrend, sich mit physischer Kraft behauptend und sich für den Hunger des Taurer-Volkes nach Menschenopfern einsetzend. Am Ende fällt im Dunkel ein Schuss, der jede Menge Spielraum zur Interpretation gibt. Jessica Sonia Cremer denkt über Goethes so reinen Schluss hinaus über das Schicksal eines Königs nach, der – zögernd dem Humanitätsideal folgend – gegen den Willen seines Volkes handelt. 

Info: Die nächsten Aufführungen sind am 2., 9. und 22. März und am 3. und 4. April. 

 
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