Reiner Feistel hat die lange "Das will ich machen"-Liste seiner Karriere tatsächlich fast abgearbeitet: Er hat fast alles in Tanz umgesetzt, was er choreografieren wollte. Der Ballettchef des Theaters Ulm wird in diesem Jahr 65 und verabschiedet sich nach fünf Jahren an der Donau in den Ruhestand; ab September wird Annett Göhre die Sparte leiten. Was macht einer, der den Tanz als sein Ausdrucksmittel hat, wenn er die Endlichkeit allen Tuns vor Augen hat? Er wählt drei Musikwerke, deren Thema die Vergänglichkeit ist, und choreografiert in ästhetischen Bildern Tod, Melancholie – und ein wenig auch die Hoffnung auf einen Neubeginn.
"Abendliche Tänze" klingt harmlos. Doch auch wenn weite Teile von Reiner Feistels letzter Choreografie in einer abendlichen Dämmerung geschehen und damit die zeitliche Bezeichnung auch passt, in erster Linie es geht symbolisch um den Abend des Lebens. Der Tod hat seinen Hut in den Ring geworfen und er spielt zum Tanz auf: Mit Sergej Rachmaninows "Die Toteninsel", Charles Ives´ kurzer Komposition "The unanswered question" und Gustav Mahlers 4. Sinfonie hat Reiner Feistel drei Musikwerke ausgewählt, die sich alle mit den ewigen Fragen nach der Existenz beschäftigen. Sie stammen durchgehend aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts und zudem eint sie, dass sie nicht für den Tanz komponiert wurden.
Erinnerung an Geglücktes ist Teil des Abends
Es war von den Komponisten sehr wahrscheinlich nie geplant, auf diese zum Teil programmatische Musik zu tanzen. Also musste eine neue Symbiose aus Musik, Tanz und Bühnenbild entstehen für diese letzte Choreografie. In sie hat Reiner Feistel auch Anklänge eingewoben, die manch einen an vergangene große Ulmer Ballettabende erinnern könnten, so an die im Ulmer Münster getanzte "Messa di Gloria". Erinnerung an Schönes, an Geglücktes ist ein Teil des Abschieds.
Schwarze Holzkähne liegen wie von einem Sturm übereinandergeworfen an einem Strand, Symbole der Allegorie eines Fährmanns, der die Verstorbenen auf eine Insel der Toten bringt. Aus einem menschlichen Knäuel erheben sich zwei Figuren – der Tod und ein Mensch. Sie kämpfen – doch am Ende wird der Tod gewinnen, keine Frage. Die Ausstattung von Frank Fellmann kleidet die Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles in weite Hosenröcke, die kein Geschlecht definieren: In der Dramatik der Endlichkeit spielt das Geschlecht der Person keine Rolle. Der Tod selbst (Magnum Phillipy) ist androgyn; fast erotisch und dominant ist er die einzige Figur, die langes, offenes Haar trägt – unterm Hut. Kurz, fast unvermittelt ist der Übergang in Charles Ives' "The unanswered question". Die Musik kommt schwebend daher, als käme sie aus dem Nebel oder aus dem Kosmos.
Theater Ulm: Die Optik dominiert
Als Monolith nach der Pause steht Gustav Mahlers 4. Sinfonie, 50 Minuten lang – aber auch sie behandelt thematisch den Übergang vom irdischen Leben ins Jenseits. Der Hut, den der Tod in den Ring geworfen hat, bleibt auf der Bühne. Er ist immer präsent. "Totentanz" wurde die Sinfonie auf dem Programmzettel einer Aufführung bezeichnet, die Mahler einst selbst dirigierte. Die Ausstattung lässt Feistels wunderschöne getanzte Bilder vor einer Caspar David Friedrich-Landschaft geschehen, wählt für die Kostüme erdig-tintige Farben zwischen Oliv und Aubergine-Tönen. Einmal schweben Alben von der Decke, gefüllt mit persönlichen Erinnerungsfotos der Tänzerinnen und Tänzer. Ein Baum blüht auf, ein kleines Haus schwebt herab. Maria Rosendorfsky erscheint für das Sopransolo am Ende als eine königliche Art Engel in Gold, Sinnbild von Mahlers Sehnsucht, mit einem kindlichen Blick auf den Himmel wieder vereint zu sein mit geliebten Menschen, die gestorben sind.
Erstaunlich an diesem Abend: Die Musik, gespielt von den Ulmer Philharmonikern unter der Leitung von GMD Felix Bender, tritt – so ausdrucksstark die gewählten Werke eigentlich sind – in den Hintergrund. Die Optik, die getanzten Bilder, dominieren.
Die nächsten Aufführungen sind am 2., 7. und 21. Mai am Theater Ulm. Die letzte Aufführung von Feistels letzter Choreografie wird am 21. Juli sein.