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Augsburg
Leben im Exil: Wie eine russische Künstlerin auf den Krieg in der Ukraine blickt
Die russische Regisseurin Anastasia Patlay wohnt als Stipendiatin im Augsburger Brechthaus. Wie sie auf die Lage in ihrer Heimat und den Krieg in der Ukraine blickt.
Felicitas Lachmayr
 |  aktualisiert: 11.03.2024 12:24 Uhr

Sie zieht ihren Schal ins Gesicht und steckt sich eine Zigarette an. „Bislang hat die Putin-Regierung nichts gegen mich unternommen. Aber das kann sich jederzeit ändern“, sagt Anastasia Patlay. Sie steht vor dem Augsburger Brechthaus. Ihr Mantel trägt dasselbe Rot wie die stählerne Silhouette des Dichters. Seit zwei Monaten wohnt Patlay nun über dem Museum. Als erste Künstlerin kam sie im Rahmen des „Artists at Risk Residency“-Programms nach Augsburg. Das Projekt soll Kulturschaffende unterstützen, die in ihrer Heimat in ihrer Arbeit und Existenz gefährdet sind. Die Stadt hatte dafür die Wohnung im zweiten Obergeschoss von Brechts Geburtshaus saniert. Bis Ende November wird die Moskauer Theaterregisseurin von hier aus arbeiten. 

Seit russische Truppen in die Ukraine einmarschiert sind, haben viele Künstlerinnen und Künstler das Land verlassen. Auch Patlay ging ins Exil, zunächst nach Spanien, wo ihr Mann und ihr Sohn leben. „Man hätte es ahnen können, aber niemand konnte sich vorstellen, dass im Europa des 21. Jahrhunderts ein Krieg ausbrechen würde“, sagt Patlay. Für Menschen, die gegen das Putin-Regime rebellieren oder sich gegen den Krieg aussprechen, wird die Lage immer schwieriger. Sie riskieren ihre Freiheit und ihr Leben. 

In ihren Stücken offenbart Anastasia Patlay politische und soziale Missstände

Patlay war schon vorher immer wieder mit den Behörden in Konflikt geraten. „Die Repressionen haben nicht erst mit dem Krieg begonnen“, sagt die Theaterregisseurin. Die russische Demokratie sei von Anfang an eine Illusion gewesen. Immer wieder wurden Menschen unterdrückt, die zu regierungskritisch waren. Der Tod von Sergej Magnitski 2009 sei ein Wendepunkt gewesen. Der Wirtschaftsprüfer hatte Beamten des russischen Innenministeriums Millionenbetrug vorgeworfen, wurde festgenommen und starb im Gefängnis. „Von da an wurden die Repressionen heftiger“, sagt Patlay. Das Moskauer Theaterkollektiv Teatr.doc, für das sie arbeitete, brachte den Fall auf die Bühne und wurde von den Behörden schikaniert. „Wir wurden immer wieder zur Zielscheibe der Regierung.“

Aufgewachsen ist Patlay in Taschkent– zu Zeiten von Gorbatschow. Sie besuchte eine Schauspielschule, erlebte den Zusammenbruch der Sowjetunion. „Es waren spannende Zeiten, aber das Leben in Usbekistan war sehr traditionell“, sagt die 47-Jährige. Sie zog mit ihrem Mann nach Moskau und machte 2009 ihren Abschluss an einer Schule, die auf Dokumentartheater spezialisiert war. 

Seitdem arbeitet Patlay als Regisseurin und Schauspielerin für das unabhängige Kollektiv Teatr.doc, das auf Dokumentartheater spezialisiert ist und mit seinen Stücken über soziale Missstände international auftritt. Der dokumentarische Ansatz vereine zwei Seiten ihrer Seele – die künstlerische und die politische. „Kunst bedeutet für mich nicht nur Schönheit, sondern Inhalt“, sagt Patlay. Als politische Aktivistin sieht sie sich deshalb aber nicht. „Ich mag kein Schwarz-Weiß-Denken. Die Welt ist bunt und sollte in all ihren Farben dargestellt werden“, sagt die 47-Jährige. Das gelte auch für die Kulturszene in Russland.

Zwar stünden Kulturschaffende seit Kriegsausbruch enorm unter Druck. Viele Verantwortliche wie Marina Loschak, Leiterin des Puschkin-Kunstmuseums in Moskau, wurden entlassen und von treuen Putin-Anhängern ersetzt. „Das Regime will Menschen mit einer modernen, weltoffenen Haltung loswerden“, sagt Patlay. „Aber viele von ihnen geben nicht auf.“ Auch die Theatergruppe Teatr.doc spiele noch, wenn auch unter erschwerten Bedingungen.

Im Exil fühlt sich Patlay sicher, doch ihre Arbeit bleibt riskant

Patlay hat sich entschieden zu gehen. Im Exil fühlt sie sich sicher, doch ihre Arbeit bleibt riskant. Freunde und Familienmitglieder leben noch in Russland. „Ich will nicht, dass plötzlich Polizisten bei ihnen vor der Tür stehen“, sagt Patlay. Sie ist vorsichtig, denn sie weiß nicht, auf wen es die Regierung abgesehen hat. „Wenn ich nach Russland zurückkehre, kann ich jederzeit verhaftet werden“, sagt Patlay. Aber ihre Arbeit aufgeben? Das will sie nicht. 

Gerade schreibt sie an einem Stück über das Leben in einem totalitären System und spricht mit Russinnen und Russen, die das Land trotz Repressionen nicht verlassen wollen. Eine andere Inszenierung mit dem Titel „Discreditations“ wird Ende April in Berlin und wohl bald auch in Augsburg gezeigt. Patlay hat es mit ihrer Kollegin, der Dramatikerin Nana Grinstein, erarbeitet. Zu Wort kommen Menschen aus Russland, die sich gegen den Krieg ausgesprochen und Repressionen erlitten haben. Ein Fall, der die Künstlerinnen besonders aufwühlte: Eine Professorin geriet wegen ihrer Äußerungen unter Druck, verlor ihren Job und muss eine Verhaftung fürchten. „Wir nennen ihren Namen nicht, denn das könnte gefährlich für sie werden", sagt Patlay. Auch den Ort haben sie geändert.

Kurz vor Kriegsbeginn in der Ukraine war Patlay das letzte Mal in Russland

Die Inszenierung ist Teil des Projekts „Neighbours“, bei dem Künstlerinnen und Künstler aus Russland, Belarus, Polen und der Ukraine zusammenarbeiten und ihre Sicht auf den Krieg verarbeiten. Das Projekt begann im März 2022. „Wir dachten damals nicht, dass der Krieg so lange dauern würde“, sagt Patlay. Inzwischen haben sie ihre Arbeit abgeschlossen und in einem Online-Meeting darüber reflektiert. Die bittere Erkenntnis: Die Kunstschaffenden aus Polen waren die Einzigen, die frei arbeiten konnten. 

Die belarussische Künstlerin hatte sich an den Protesten gegen die Regierung 2020 beteiligt und lebt wie Patlay im Exil. Die ukrainische Teilnehmerin wohnt in Kiew und muss Anfeindungen fürchten, weil sie mit russischen Künstlerinnen zusammenarbeitet. „Mein ganzes Schaffen richtet sich gegen den Krieg und gegen das Putin-Regime“, sagt Patlay. „Aber ich kann verstehen, dass sich Menschen aus der Ukraine nicht mit mir an einen Tisch setzen würden. Sie haben das Recht, mir nicht zuzuhören.“

Kurz vor Kriegsbeginn war Patlay das letzte Mal in Russland. Ihre Performance „Memoria“ über die Auflösung der russischen Rechtsverteidigungsorganisation „Memorial“ durch die Putin-Regierung feierte Premiere in Moskau. Für die Entwicklung des Stücks hatte sich Patlay mit Brecht und dessen Exilgedichten befasst. Eine zentrale Frage: Was bedeutet es, seine Heimat zu verlassen? Darauf sucht sie nun auch selbst nach Antworten. 

 
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