Es war ein ziemlich unwirtlicher Sommer, damals im Jahr 1816, als einer 19-jährigen Engländerin die Idee zu einem Buch kam, das zum Klassiker der Gruselliteratur wurde. Dass Mary Shelleys „Frankenstein“ neben Schauer und Schrecken auch bis heute brisante Themen enthält, zeigt eine Inszenierung am Staatstheater Augsburg, die nun auf der Brechtbühne Premiere hatte.
"Frankenstein" nach dem Grusel-Klassiker von Mary Shelley hat am Staatstheater Augsburg Premiere
Dauerregen, Kälte und Unwetter – alles andere als Urlaubswetter herrschte im Jahr 1816, als Mary und ihr zukünftiger Ehemann Percy Shelley zusammen mit Marys Halbschwester Claire nach Genf reisten, um dort den berühmten englischen Dichter Lord Byron zu besuchen. Das unfreundliche Wetter, so weiß man heute, war allerdings nicht nur die üble Laune eines Wettergottes, sondern die Folge einer Naturkatastrophe, die sich drei Jahre zuvor in Indonesien zugetragen hatte. Dort war im April 1815 der Vulkan Tambora ausgebrochen. Insgesamt 71.000 Menschen starben, das globale Klima in Europa kühlte sich im darauffolgenden Jahr um bis zu zwei Grad ab. Wie eine Klimaveränderung um nur wenige Grad die Lebensverhältnisse auf den Kopf stellen kann, wissen und diskutieren wir aktuell, die Menschen zur damaligen Zeit hatten davon noch keine Ahnung. Nicht nur Missernten, Ernteausfälle, Hungersnöte und soziale Unruhen waren die Folge, sondern auch ein diffuses Unbehagen – eine Grundstimmung, wie gemacht für einen Gruselschocker.
In diesem klimatischen Gesamtzusammenhang stellt Jan Langenheim, der erstmals am Staatstheater Augsburg Regie führt, seine Inszenierung von „Frankenstein“. Zusammen mit Dramaturgin Melanie Pollmann schrieb er eine Stückfassung, die in weiten Teilen dem Inhalt der Romanvorlage folgt, ergänzt um die Geschichte seiner Entstehung und seiner Verfasserin.
In einer Mischung aus Langeweile und Laudanum-Rausch verabreden die Genfer Urlauber nämlich einen Schreibwettbewerb, aber nur Mary gelingt dabei ein Werk, das die Zeit überdauert – nicht nur, weil Leserinnen und Leser es lieben, wenn ihnen gruselige Schauer über den Rücken laufen, sondern weil existenzielle Themen in diese Geschichte um die Erschaffung eines Menschen einfließen: Allmachtsfantasien, es Gott gleichzutun; wissenschaftliche Hybris und damit die Frage, ob alles, was möglich ist, auch gemacht werden sollte; die Einsamkeit, die Außenseiter an die Grenze von Gut und Böse bringen kann. Nicht nur als Schatten im Hintergrund steht in Langenheims Inszenierung die künstliche Intelligenz und die Frage, ob auch sie das Zeug zum Monster hat, das zur Gefahr für ihre Schöpfer wird.
"Frankenstein" am Staatstheater: Eine Feuersbrunst erobert den ganzen Bühnenraum
Mit Projektionen, die teilweise von künstlicher Intelligenz geschaffen wurden, verwandelt Thies Mynther die kahlen Wände der Brechtbühne selbst zu einem Labor des technisch Möglichen. Comic-Wesen gleich verändern sich hüpfende und zwinkernde Äuglein zu kleinen Pantoffeltierchen, verschieben sich geometrische Gebilde in Schwarz und Weiß zu immer neuen Formationen, blicken einem Avatare der Schauspieler entgegen, erobert eine gewaltige Feuersbrunst den ganzen Bühnenraum und versetzen Eisberge in die unendliche Polarlandschaft, in der Frankenstein und seine Kreatur schließlich stranden. Im Zusammenspiel mit dem Lichtdesign (Moritz Fettinger) entstehen großartige Bilder und Szenen wie jenes Schattenspiel, in dem Frankenstein und seine Kreatur die Rollen tauschen, der Schöpfer zum Mörder wird, das Monster zum Opfer, und sich augenfällig die Frage stellt: Wer hat schuld an all dem Unheil?
Überhaupt der Rollentausch, der gelingt in dieser Inszenierung mit fünf Schauspielern (samt zwei Statisten) und dem vierfachen an Rollen bravourös. An der Einsamkeit verzweifelnd und dadurch zum Opfer werdend berührt Mirjana Milosavljevic´ als Frankensteins Monster ebenso wie sie als Mary Shelley weibliches Empowerment verkörpert.
Prägend für die Aufführung ist Sebastian Müller-Stahl als Frankenstein, immer balancierend zwischen Forscherdrang, Wahn und Erkenntnis sowie als blasierter Lord Byron. Auch Julius Kuhn, Jenny Langner und Gerald Fiedler überzeugen in mehreren Rollen.
An der Szenerie und den Schauspielern liegt es auf jeden Fall nicht, wenn man im Zuschauerraum zwischendurch einen Blick auf die Uhr wirft und der Gedanke kommt, dass die zwei Stunden und 40 Minuten dauernde Aufführung auch ein wenig kürzer hätte sein dürfen, denn nicht immer kann dieses Konstrukt aus Romanvorlage und entstehungshistorischem Twist die Spannung halten – auch wenn klamaukige Einschübe, Ausflüge in den Zuschauerraum und musikalische Schlager-Intermezzi hohen Unterhaltungswert haben.
Alle weiteren Vorstellung sind ausverkauft, Restkarten eventuell an der Abendkasse.