Ein ebenso suggestives wie stimmiges Bild eröffnet diesen neuen "Eugen Onegin". Zwei Frauenpaare sieht man sitzen auf einer leeren Spielfläche mit leicht hochgezogenen Enden, die an den zu Beginn des 19. Jahrhunderts beliebten Sofatyp der Récamiere erinnern. Das eine, ältere Paar blickt und singt in Richtung Publikum. Das andere, jüngere schaut, dem Auditorium den Rücken kehrend, hinaus auf eine nächtliche, mit Großstadtlichtern übersäte Ebene, sichtlich seinen Jungmädchenträumen hingegeben. Was wird sie mit sich bringen, die Zukunft; die entbehrungsreichen, wenn nicht gar zweifelhaften Wonnen der Gewöhnung in ein "vernünftiges" Leben, von dem die reiferen Frauen im Wechselgesang berichten? Für die beiden blutjungen Schwestern Olga und Tatjana steht hingegen noch alles offen. Ein Trugschluss. Denn die unvermeidlichen Zwänge scheinen sich schon anzudeuten durch die dem Récamiere-Boden spiegelbildlich entgegengesetzte graue Bühnendecke, die die Frauen gleichsam in einer Art Zangengriff hält.
Roland Schwab hat für das Staatstheater Augsburg Peter Tschaikowskys Oper nach Episoden aus Puschkins Versepos "Eugen Onegin" szenisch neu eingerichtet. Und der Regisseur ist der Maxime des russischen Komponisten gefolgt, der alles andere wollte als ein herkömmliches Operndrama zu schaffen mit Haupt- und Staatsaktionen, Dolch- und Intrigengeschichten. "Lyrische Szenen" hat Tschaikowsky seinem "Eugen Onegin" als Gattungsbegriff mitgegeben (was ein wenig Blutvergießen in Form eines Duells nicht ausschließt), und Schwab hat diese Zuschreibung respektiert, sich jeglicher Politaktualisierung enthalten und den Fokus ganz auf die Innenschau der Protagonisten Onegin, Lenski und vor allem Tatjana gelegt. Und so begnügt sich die Produktion auf der Ausweichspielstätte Martinipark denn auch durch alle drei Akte hindurch mit dem einmal gesetzten Récamieren-Bühnenbild (Piero Vinciguerra), und ebenso legen sich Gabriele Rupprechts Kostüme, wenngleich Unterschiede im sozialen Status reflektierend, nicht fest auf eine exakt zu bestimmende Zeit.
Der Chor tritt erst einmal nicht in Erscheinung
Doch gerade im ausgedehnten ersten Akt, der die Hälfte der Gesamtspieldauer der in russischer Originalsprache (mit Übertiteln) gesungenen Oper einnimmt, bringt Schwabs Konzept die Gefahr des Szenisch-Statuarischen mit sich. Unter anderem dadurch, dass die beiden Chorauftritte, die sonst bäuerliche Ausgelassenheit in die Herzensergießungen der Protagonistinnen und Protagonisten bringen, nicht mehr in physischer Präsenz geboten, sondern nur noch akustisch durch die Chiffre eines Radios vermittelt werden. Hinzu kommt, dass die psychischen Vorgänge, die gerade in der Figur der Tatjana den eigentlichen dramatischen Plot bilden – jener erstmals bei dem jungen Mädchen einsetzende Liebessturm, der, nach heftigem Widerstreit der Gefühle endlich eingestanden, prompt eine eiskalte Abfuhr heraufbeschwört –, dass diese inneren Vorgänge einer entsprechenden Sichtbarkeit in der Rollendarstellung bedürfen. Doch hier ist die Personenregie nicht tiefenscharf genug, was sich noch potenziert, wenn die Interpretin nicht aus eigenem Dazutun dem Figurencharakter plastisch aufzuhelfen vermag. Die Partie der Tatjana – Tschaikowskys Oper könnte mit jedem Recht auch ihren statt Onegins Namen im Titel führen – ist von Jihyun Cecilia Lee zwar fabelhaft nach Noten gesungen. Die Wirklichkeit des durch Onegin ausgelösten Gefühlswirrwarrs, wie er sich in der monumentalen Briefszene im ersten Akt darstellt, vermag sich jedoch nicht überzeugend einzustellen, die Darstellung bleibt hier stecken in theatraler gestischer Konvention.
In den verbleibenden beiden Akten darf der Chor dann endlich physische Präsenz zeigen, und mit ihm kommt auch Gesellschaftskritik ins Spiel, modelliert die Regie hier doch deutlich die Häme der Gemeinschaft gegenüber der verschmähten Tatjana heraus, im dritten Akt schließlich die Kälte des Kollektivs gegenüber einem ausgelöschten jungen Leben – Lenski bleibt allansichtig tot auf der Bühne zurück, daneben ist der Gesellschaft schon wieder nach Tanz zumute. Stand im Eröffnungsakt Tatjana im Mittelpunkt, so rückt der Fokus im Folgenden nun weiter auf Lenski, den Verehrer Olgas – Natalya Boeva gibt sie in stimmig lebenslustigen Kontrast zu ihrer Schwester Tatjana –, und auf dessen Freund Onegin. Die männlichen Protagonisten-Interpreten sind Neuzugänge am Staatstheater in dieser Spielzeit. Der Tenor Sung min Song verfügt über gehörig Fülle und Schmelz in der Stimme für den Lenski, versteht sich zugleich, wie seine Abschiedsarie vor dem Duell mit Onegin zeigt, auf ein konsequent geführtes leises Register – ein Augsburg-Debüt, das Erwartungen setzt für weitere ebenso gelungene Partien am Haus. Sein koreanischer Landsmann Shin Yeo besitzt eine zunächst nicht weniger ansprechende, männlich-druckvolle, bei Bedarf samtig strömende Baritonstimme, was ihn vokal prädestiniert für die Titelrolle des Onegin. Allerdings hat Shin Yeo im finalen Aufeinandertreffen merklich Schwierigkeiten mit der tückischen Höhenlage der Partie. Unterm Strich aber auch hier ein vielversprechender Einstand im Ensemble – in dem Luisa von Garnier als mild-verständige Amme, Kate Allen als entsagende Mutter Larina und Avtandil Kaspeli als sämig vom Altmännerglück schwärmender Fürst Gremin überzeugen.
Bei Domonkos Héja laufen die Fäden zusammen
Und doch überragt einer alle anderen an Überzeugungskraft. Domonkos Héja ist die pulsierende Seele dieses "Eugen Onegin", mit überragendem Sinn für die besondere Textur, die so rasch umschlagenden Wetterlagen von Tschaikowskys Partitur. Stets luftig bleibt bei ihm das Klangbild der Augsburger Philharmoniker, minutiös reagiert Héja auf den Wechsel der Empfindungen, gerade auch in der Briefszene, die in ihrer Ausdruckskraft als psychologisches Tableau maßgeblich vom Dirigenten getragen ist, mal sehnsuchtsvoll, mal impulsiv, und allzeit feinnervig. Das "Lyrische" in diesen "Szenen", hier wird's Ereignis.