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Salzburg
Acht (Zerreiß-)Proben: "Der kaukasische Kreidekreis" setzt Zeichen für Inklusion
Wer verdient das Kind mehr? Die leibliche Mutter oder die, die sich darum kümmert? Bert Brecht gibt in „Der kaukasische Kreidekreis“ eine eindeutige Antwort.
Birgit Müller-Bardorff
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:51 Uhr

In den Staats- und Stadttheatern sind sie immer noch die Ausnahme: körperlich und geistig behinderte Darsteller. Sind deren Ensembles mittlerweile zwar diverser in ihrer Zusammensetzung, was Hautfarbe oder Herkunft angeht, finden sich Spielende mit Beeinträchtigungen, die das sprachliche und körperliche Spiel ja auch maßgeblich beeinflussen, bisher nur sehr selten auf den Bühnen städtischer und staatlicher Häuser. 

Insofern setzen die Salzburger Festspiele in diesem Jahr ein starkes Zeichen für die Inklusion im Theater: mit der Inszenierung von Bertolt Brechts„Der kaukasische Kreidekreis“ in der Szene Salzburg, einem ehemaligen Kino, das bis auf das nackte Mauerwerk zurückgebaut wurde. Auf dem Bühnenpodest stehen Schauspielerinnen und Schauspieler des Theaters Hora, jenes Zürcher Ensembles, das eine der weltweit renommiertesten Truppen Theaterschaffender mit unterschiedlich ausgeprägter geistiger Behinderung ist. 

Salzburger Festspiele setzen starkes Zeichen für Inklusion

Vor 30 Jahren gegründet, hat es sich von der privaten Elterninitiative zur kulturellen Institution entwickelt. Im Vordergrund stehen nicht der beschäftigungstherapeutische oder der sozial-politische Aspekt, sondern die professionelle künstlerische Arbeit – in der hauseigenen Ausbildungsstätte wie auch mit dem 15-köpfigen Ensemble. Prominente Regisseure wie Milo Rau und Nicolas Stemann, und Häuser wie die Münchner Kammerspiele, arbeiteten mit den Horas, die Inszenierungen sind international auf Festivals zu Gast, auch mit einer Einladung zum Berliner Theatertreffen sowie mit dem Alfred-Kerr-Preis ausgezeichneten Ensemble-Mitglied Julia Häusermann können sie sich schmücken. 

Nun also Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“. Was auch abseits der Stückthematik eine interessante Frage aufwirft, nämlich die nach der Werktreue, auf die die Rechte-Verwalter des Dramatikers bekanntlich ein strenges Auge haben. Was bleibt übrig von Brecht mit Darstellerinnen und Darstellern mit kognitiver Beeinträchtigung, deren körperliches und improvisierendes Spiel eine Inszenierung mehr als genaue Textarbeit prägen? Diese Zweifel kamen wohl auch Regisseurin Helgard Haug, Mitbegründerin des Theaterkollektivs "Rimini-Protokoll", wie sie im Programmheft darlegt. Doch Verlag und Erben gaben ihr Einverständnis, vielleicht gerade deswegen, weil die inklusive Annäherung an das Stück herkömmliche Sehgewohnheiten aufbricht und überdenken lässt – ganz im Sinne Brecht´scher Publikumsherausforderung also.

Auch Regisseurin Helgard Haug zweifelte anfangs

Helgard Haugs Inszenierung beginnt da, wo Brecht endet: bei der (Zerreiß-)Probe im Kreidekreis, die darüber entscheiden soll, welche der beiden Frauen die rechtmäßige Mutter des Kindes ist. Die leibliche, die es verlassen hat, weil ihr eigene Interessen und Wohlstand wichtiger waren. Oder diejenige, die das Kind zu sich genommen und liebevoll aufgezogen hat? Die Fürstin (bei Brecht die Gouverneurin) oder die Magd Grusche? Brechts Antwort war eindeutig: Die fürsorgliche Mutter ist die bessere.

Für Helgard Haug und die fünf Spielerinnen und Spieler des Theater Hora löst diese Entscheidung Fragen und Überlegungen aus, und dass sie nicht einfach sein werden, das deutet sich schon vor Beginn der Aufführung an: Kringelige Spiralen, nicht Kreise sind es, die den in grüne Quadrate aufgeteilten Bühnenboden bedecken, und die von zwei Wischrobotern weggeputzt werden (Bühnenbild Laura Knüsel). 

"Der kaukasische Kreidekreis" in Salzburg: Wie würde das Kind entscheiden?

Immer wieder neue Fragen ergeben sich in dieser Inszenierung, die dabei nichts Lehrstückhaftes an sich hat, sondern durch atmosphärische Musik (Barbara Morgenstern) und stimmungsvolles Licht (Marc Jungreithmeier) zu einem intensiven sinnlichen Erlebnis wird. Die Bühne ist das Spielfeld für Brechts Charaktere. Achtmal wird darauf die Probe durchexerziert. Wie würde das Kind entscheiden? Wären nicht auch der Richter, die Musikerin oder der abwesende Soldat eine gute Mutter? Und schließlich auch: Was, wenn das Kind nicht gesund gewesen wäre, hätte sich die Magd auch dann seiner angenommen? Hätte die Fürstin es überhaupt bekommen? Darauf läuft die Inszenierung zu und macht die Besetzung mit beeinträchtigten Spielern schließlich zum schlüssigen Konzept. Dramaturgisch wird dies mit der Brecht´schen Handlung verknüpft, wird die Vorgeschichte in kurzen Spielszenen aufgerufen, die, wie der ganze Abend, unterlegt werden durch das virtuose Spiel der Percussionistin Minhye Ko.

Theater Hora bringt eigene Lebensrealität in Brechts "Der kaukasische Kreidekreis" ein

Das Ensemble mit Remo Beugert (Richter ), Robin Gilly (Kind), Simone Geisler (Grusche), Tiziana Pagliaro (Fürstin) und Simon Stuber (Soldat) spielt diese Versuchsanordnungen der Probe im Kreidekreis mit mitreißender Emphase, Humor und Unbefangenheit. Wie Sportler vor dem entscheidenden Wettbewerb, machen sich Geisler und Pagliaro warm für den Kampf ums Kind, dehnen die Glieder und lassen die Fingerknöchel knacken. In-Ear-Kopfhörer unterstützen alle Darsteller mit Anweisungen für die Texte in einfacher Sprache und den Ablauf des Bühnengeschehens.

Ihre eigene Lebensrealität und die Probenerfahrungen bringen die Hora-Spielerinnen dabei mit ein und setzen sie mit den Figuren und der Handlung des Stücks in Beziehung. "Warum wolltest du die Rolle spielen?" , "Möchtest du selbst auch einmal Kinder haben? ", will Remo Beugert, der neben seiner Richterrolle das Stück als eine Art Conferencier in den verschiedenen Ebenen großartig zusammenhält, von seine Mitspielenden wissen, und er öffnet damit den Raum für neue Perspektiven und Überlegungen. 

Die Distanz zwischen Bühne und Publikum durchbrechen

Die persönlichen Sichtweisen der Darsteller und Darstellerinnen werden Teil des Stücks. Sie treten aus ihren Rollen, sprechen von sich, kommentieren und lassen so die Grenzen zwischen Brechts Figuren und der eigenen Person, zwischen Theater und Leben ineinanderfließen. Die Distanz zwischen Bühne und Publikum durchbrechen sie mit kleinen Büchern, die verteilt werden und die die Zuschauerinnen und Zuschauer studieren können, darin Fotografien und Geschichten aus der eigenen Kindheit. Welches Verhältnis man zu behinderten Menschen hat, aber auch darüber, wie eigenständig das Leben ist, das man ihnen zugesteht, auch diese Fragen wirft diese beeindruckende Inszenierung auf. Antworten darauf muss sich – ganz im Sinne Brechts – jeder Zuschauer und jede Zuschauerin selbst geben.

 
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