Kann in dieser Welt, fragt Manolios, irgendetwas ohne Blutvergießen getan werden? Eine vieldeutige Frage: Manolios, der griechische Hirte, der für das Passionsspiel seines Dorfes zum Christus-Darsteller erkoren wurde, weiß durch die Auseinandersetzung mit Leben und Lehren Jesu, dass der nachmals Gekreuzigte für Gewaltlosigkeit stand. Und doch hat sich Manolios gerade durch diese Auseinandersetzung für das Gegenteil entschieden, will mit Gewalt einfordern, was Notleidende zum Überleben brauchen, was der Großteil der Dorfgemeinschaft jedoch verweigert. Am Ende liegt Manolios in seinem Blut, erstochen von den Bewohnern, sein Passionsweg ist ans Ende gelangt.
Der tschechische Komponist Bohuslav Martinu (1890-1959) hat für seine Oper „Die Griechische Passion“ auf einen Roman von Nikos Kazantzakis zurückgegriffen, bekannt vor allem als Autor von „Alexis Sorbas“. Für seine Ende der 1950er-Jahre entstandene Oper, die Martinu nach einem vergeblichen Uraufführungsversuch nochmals überarbeitete, bevor sie postum 1961 in Zürich erstmals auf die Bühne kam, hatte der im Exil lebende Komponist selbst das Libretto verfasst, in englischer Sprache. Zwei Handlungsstränge verschränken sich darin, führen letztlich zum blutigen Ende.
Die "Griechische Passion" bei den Salzburger Festspielen: Plötzlich sind Flüchtlinge im Dorf
In einem griechischen Dorf „zur Zeit der türkischen Herrschaft“ verkündet der Priester Grigoris, wer die Darsteller des künftigen Passionsspiels sein sollen, und empfiehlt, bis dahin fleißig die Bibel zu studieren. Da nähert sich ein Zug Flüchtlinge, deren Dorf von den Besatzern niedergebrannt wurde. Ihr Anführer Fotis, ebenfalls Priester, bittet um Erbarmen und Zuwendung, die jedoch vom angestammten Dorf und seinen Ältesten, Grigoris vorneweg, verweigert werden. Zunächst steht nur die Witwe Katerina – sie soll in der Passionsaufführung Maria Magdalena übernehmen – den Geflüchteten bei, später schlägt sich auch Manolios auf ihre Seite und empfiehlt eine nahe Gegend zur Neuansiedlung. Es kommt zur direkten Konfrontation zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen, mittendrin Manolios und einige weitere Passionsdarsteller, bei denen die Beschäftigung mit der christlichen Leidensgeschichte ebenfalls ein Umdenken bewirkt hat.
Für die Salzburger Festspiele hat Regisseur Simon Stone „The Greek Passion“ (Originaltitel) in der Felsenreitschule inszeniert. Auf der riesigen Bühne verblendet eine hohe Wand (Entwurf: Lizzie Clachan) fast gänzlich die in den Stein getriebenen Galerien der ehemaligen Reitschule. Kahl, glatt und vor allem grau – wie auch die Dorfbewohner-Kostüme (Mel Page), die Simon Stone mit dem Spleen ausgestattet hat, alles, was sie als Schmutz oder nicht zu ihnen gehörig erachten, mit langen Putzbesen unter die Erde zu kehren. Ein im übertragenen Sinne „sauberes“ Dorf, in das sich der Zug der Flüchtlinge einschleppt wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt: mit zwar zerschlissenen, aber dennoch farbigen Gewändern.
Regisseur Stone belässt es bei solch spärlichen Zeichensetzungen, die als Bedeutungsträger wirkungsvoll genug sind. Keine Spur von aufdringlicher Aktualisierung, auch da nicht, wo es um die Gruppe der Geflüchteten geht. Ein paar Rettungswesten, einige Wurfzelte genügen, jeder Zuschauer weiß, wen man sich realerweise als deren Träger denken muss. Das Frappierende an diesem konzeptuellen Minimalismus ist: Er steigert enorm die Wirkung, die von dieser „Griechischen Passion“ ausgeht. Stone legt das ganze Gewicht seiner Inszenierung auf die Darstellung des Menschen, auf sein Reagieren, wenn durch äußere Umstände Teilnahme, Mitleid, von ihm eingefordert wird. Wie hier durch personelle Konstellationen auf der Bühne, durch Konfrontationen, Gesten, durch das altbewährte Mittel der Personenführung, emotionale Zustände sichtbar gemacht werden, Verlustangst, Machtbesessenheit, Niedertracht und blinde Wut, aber auch sinnliches Begehren (Manolios und Katerina), das ist großartig in seiner Aussagekraft.
Der Chorgesang geht bis an die Schmerzgrenze
Diese Eindringlichkeit verdankt sich auch der Tatsache, dass die Konfliktlinien über breit angelegte Chorstrecken verlaufen. Nicht nur staffelt die Regie die widerstreitenden Gruppierungen wirkungsvoll tief im Bühnenraum, die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor führt auch höchst druckvoll immer wieder neue Siedepunkte herbei, in extremen Momenten bis an die (Hör-)Schmerzgrenze. Angetrieben werden die Chorsänger, wie auch alle anderen Beteiligten, von Maxime Pascal, dem jungen französischen Dirigenten, der sich geradezu halsbrecherisch in Martinus Partitur hineinstürzt und die Wiener Philharmoniker immer wieder aufs Neue mit weit ausholenden Bewegungen befeuert. Selbst wenn das Klangbild hie und da etwas mehr Auflichtung vertragen würde, geht die packende Wirkung dieser Produktion doch nicht zum Geringsten auf Pascal zurück, auch, weil er Martinus Anleihen bei der griechisch-orthodoxen Klangwelt etwas archaisch Unerbittliches verleiht.
Selten erlebt man ein Solisten-Ensemble – es umfasst in der „Griechischen Passion“ nicht weniger als 16 Partien –, das derart geschlossen, sängerisch wie darstellerisch, eintaucht in das aufzuführende Werk. Dennoch sind einige hervorzuheben, schon aufgrund des Stellenwerts ihrer Rollen. Die sonore Markigkeit, mit der Gábor Bretz den Priester Grigoris gibt, transportiert erschütternd den Starrsinn des Kirchenoberen. Ungemein glaubwürdig formt Charles Workman die inneren Wandlungen des Yannakos-Petrus. Sara Jakubiak hält ihre Katerina stets auf der Kante zwischen dem Stimmschmelz der Verführerin und den dramatischeren Farben einer wissend Mitleidenden. Und Sebastian Kohlhepps Leistung besteht ganz wesentlich darin, den Christus-Darsteller Manolios transparent zu halten für den einfachen, selbst bedürftigen, dennoch das Wesentliche wägenden Menschen.
„Die Griechische Passion“ der Festspiele ist ein Theaterereignis von bezwingender Wucht. Mit Anrecht darauf, als beste Operninszenierung des diesjährigen Salzburg-Sommers zu gelten.