Sterben kann recht lustig sein. Vor allem, wenn es Gerhard Polt begleitet. Wobei … Darf man überhaupt darüber lachen, wenn einer wie er, die Instanz der bayerischen, ja der deutschen Kabarett-Szene, über die längst zum Normalfall gewordenen, mitunter skandalösen Umstände räsoniert, die ein Mensch und seine Angehörigen nach dem Tod über sich ergehen lassen sollen?
Auf jeden Fall, man muss sogar! Denn „A scheene Leich“, das neue Polt-Stück, das am Samstagabend in den Münchner Kammerspielen Premiere feierte und das der 80-Jährige (echt wahr?) zusammen mit den Well-Brüdern Stofferl, Michi und Karli sowie einem Laienchor unter der Regie des Schweizer Skurrilitäten-Spezialisten Ruedi Häusermann inszenierte, ist mithin das vergnüglichste und böseste Stück, das die hinterfotzige Männer-Combo in ihrem über 40-jährigen Dasein an den Kammerspielen auf die Bühne gebracht hat.
Und es ist ein Ereignis, auf das die Münchner, aber auch Intendantin Barbara Mundel scheinbar wie Verdurstende nach einem langen Marsch durch die Wüste gewartet haben. Mundels schleppender Start, bedingt durch die Pandemie, sowie die Vakanz, die Polt und die Seinen nach ihrem bislang letzten Gastspiel mit „Ekzem Homo“ 2015 entstehen ließen, trieben die Neugier auf die „Erblastkomödie“ förmlich auf die Spitze. Wer beim Lesen dieser Zeilen auf die Idee kommt, sich Karten zu bestellen – bis Ende Februar geht nichts mehr. Erst wieder im März soll es für weitere Aufführungen noch Tickets geben. Also: Avanti Galoppi! Denn am Ende herrschte Jubel, helle Begeisterung, zehn Minuten Dauerapplaus.
Gerhard Polt beschreibt die Umstände eines Begräbnisses
Im Titel des Stücks geht es um reale Sprache oder besser um bayerischen Dialekt. „A scheene Leich“: Das ist keineswegs ein attraktiver Toter, wie dies Menschen aus den nördlichen Bundesländern (einst waren das die „Preißn“) vermuten könnten, sondern beschreibt die Umstände eines Begräbnisses, beginnend mit einer würdevollen Beerdigung und nachfolgend einem deftigen Essen, schmissiger Musik, einem Fetzn-Rausch und der Freude, dass es einen selbst noch nicht erwischt hat.
Doch so funktioniert das nicht mehr. Der Tod ist ein lukratives Geschäft geworden, das der Bestattungsunternehmer Pius Brenner– in Polts genialer Buchstaben-Bildhauerei ein „Nekro-Ökonom“ – längst erkannt und die börsenorientierte „Pietas Ruhe GmbH und Co. KG“ gegründet hat. Außerdem betreibt er nebenher ein Altenheim. Zu Beginn tappelt Polt als besagter Brenner mit Glatze herein, seine Ware in Gestalt von Stefan Merki mit Bundeswehrdecke im Rollstuhl vor sich herschiebend. Der soll der Nächste sein, der vom Altenheim ins Bestattungsunternehmen wandert; ein nie versiegendes Fließbandsystem, bei dem Menschenwürde im Grunde ein vernachlässigbares Gut geworden ist. Ja, mei, bei rund 1000 Euro Rente wird es mit der Würde eben knapp.
Gerhard Polt schreckt selbst vor drastischen Details nicht zurück
So nimmt die musikalisch-kabarettistische Nummernrevue mit theatralem Handlungsfaden ihren Lauf. Als Brenner stirbt, geht es ihm nicht anders als den geldbringenden Senioren, denen man eine „Drei-Pfund-Windel“ anlegt, weil im Altenheim ja chronischer Personalmangel herrscht. Der Laienchor probt für seine Beerdigung, die Ex-Frau trauert ihrem Imperium nach, die junge allein erbende Witwe schießt Selfies am offenen Grab und ein Ritual-Designer plant die Beisetzung, ohne den Verstorbenen gekannt zu haben. Stört heute niemanden mehr. Die Gesellschaft verdrängt die Faktoren Alter und Tod, sie lagert das Sterben aus und sieht dabei sogar über unmenschliche Bedingungen in Alters- und Pflegeheimen hinweg. Aber Polt thematisiert das, er schreckt selbst vor drastischen Details nicht zurück, die auf Tatsachen im Fall des Schlierseer Skandalpflegeheims zurückgehen und von Würmern in offenen Wunden Verhungernder erzählen, von überfahrenen Umherirrenden, von hygienischen Unzumutbarkeiten und 17 ungeklärten Todesfällen.
Man muss sich darüber ereifern und nicht gleichgültig die Achseln zucken, vor allem, wenn Spezialisten wie Polt und die Well-Brüder die Finger in die Wunden legen. Alle sind sie auf dem Dorf groß geworden, Polt in einer Metzgerei direkt gegenüber dem Leichenschauhaus, einem Schaufenster ins Jenseits; die Wells verdienten sich als Beerdigungsband im Teenageralter so manchen Zehner dazu. So ruft der Stofferl im Stück: „Wir sind die Pietas-Trauerkapelle, wir spielen alles! Wie auf der Titanic!“ Und die nach wie vor anarchistisch agierenden Burschen bekommen diesmal wirklich jeden Raum, um ihre immer wieder bewundernswerten multiplen Fähigkeiten (jeder spielt drei bis vier Instrumente) virtuos auszubreiten in klassischen Chorsätzen, Gstanzln, Comedian-Harmonists-Medleys („Wochenend im Altenheim“, „Veronika, der Arzt ist da“). Wer so aufwächst wie die Wells und Gerhard Polt, der denkt das Leben vom Ende her. Nicht, um zu verzweifeln, sondern, um es, während man lebt, lebendig zu halten.
Polt stiefelt scharfsinnig, pointiert, melancholisch, einfach unnachahmlich über die Bühne der Kammerspiele
Deshalb sollte niemand dem Irrglauben anheimfallen, dass hier womöglich Polts persönlicher Schwanengesang erklänge, hinter dem sich der große Vorhang senkt. Allein dass er sich mit seinem eigenen Ende beschäftigt – was ja in seinem Alter nichts Ungewöhnliches ist. Scharfsinnig, pointiert, melancholisch und unnachahmlich stiefelt er in verschiedenen Rollen durch sein Stück, mal als Geschäftsführer, mal als Chorteilnehmer, mal als Anwalt, mal als Geistlicher im legendären Papa-Razi-Singsang, um dann wieder zwischendurch als Gerhard Polt im direkten Kontakt mit dem Publikum den Zeitgeist zu kommentieren. Vor allem seine grandiosen Wortschöpfungen wie „absolute Tranquilität“ oder „I ko mi nimmer erinnern an des, wos I vergessen hob“ heben ihn inzwischen auf eine Stufe mit seinem großen Vorbild Karl Valentin, den famosen Um-die-Ecke-Denker, der uns vieles viel besser, eindringlicher erklären konnte, als das Politikern, Philosophen und anderen gʼscheiten Leuten je gelang.
Auch Polt erzählt von Dingen, über die sich nicht reden lässt, sondern nur mehr lachen. Über das Altern und die Vergesslichkeit, vertauschte Urnen und gierige Erben, vor allem aber über den Mangel an Solidarität. Der Staat verwaltet den Mangel, die Menschen kultivieren ihre „Ichigkeit“, wie Polt im Programmheft-Interview formuliert. Insofern ist „A scheene Leich“ bei allem Witz ein zutiefst humanistisches Stück, das mit dem Protagonisten als Pfarrer auf einem Friedhof endet, der sich in Rage predigt, während sich die irritierte Trauergemeinde zerstreut. Kurz darauf löffelt er einsam am Tisch bei der „Leich“ seine Suppe. Minutenlang. Schweigend. Ein fast existenzialistisches Ende, das in einen befreienden Schlussapplaus mündet und legendäre Kammerspiele-Revuen wie „München leuchtet“ (1984), „Diridari“ (1988) oder „Tschurangrati“ (1993) wieder ins Gedächtnis ruft. Und Gerhard Polt strahlt stolz und bescheiden, er wirkt so glücklich wie nie und ganz mit sich im Reinen, der Mann, der uns die Nachbarschaft menschlicher und politischer Schweinereien so viel erträglicher macht. Dieser Karl Valentin des 21. Jahrhunderts.