Händels "Serse" darf heuer zu den Jubilaren gerechnet werden, in gewisser Weise zumindest, denn hundert Jahre ist es her, dass bei den Göttinger Händel-Festspielen die Oper um den antiken Perserkönig Xerxes (italienisch Serse) wiederbelebt wurde, nachdem sie fast zwei Jahrhunderte im Dornröschenschlaf lag: Dem 1738 uraufgeführten Stück war kein großer Erfolg beschieden, nach einer Handvoll Vorstellungen wurde es abgesetzt. Seit seiner Reanimierung aber zählt "Serse" zu Händels beliebtesten Bühnenwerken; auch in Augsburg ist die Oper nicht neu, zuletzt wurde sie 2002 gegeben in einer Inszenierung des damaligen Intendanten Ulrich Peters.
Schwer zu sagen, worauf die Wertschätzung von Händels 40. Oper beruht. Allein an "Ombra mai fu", dem Auftritts-Larghetto der Titelfigur und Allzeit-Klassikhit, kann es nicht liegen. Eher schon am Zuschnitt dieser späten Händel-Oper, worin der Komponist das Korsett der starren Rezitativ- und Arienabfolge abstreifte zugunsten eines flexibler gehandhabten Gewebes. Andererseits mutet uns Heutigen die Handlung des "Serse" recht seltsam an. Denn der historische Xerxes, geschichtsbuchbekannt durch seine Feldzüge gegen die Griechen, wird im Libretto ausschließlich als ein in Liebeswirren verstrickter Regent vorgeführt.
Wo bei "Serse" einst die Kastraten waren, singen jetzt Frauen
Eine Herausforderung also, den "Serse" auf die Bühne zu bringen, auf dass das Publikum bei der Stange bleibe bei all dem Ich-lieb-dich-, Ich-lieb-dich-nicht-Karussell der Figuren, die Verwirrung auch durch ihren gleichförmigen Namensklang erzeugen – who is who bei Arsamene, Amastre, Ariodate, Atalanta –, noch getoppt durch die Tatsache, dass im Falle von Serse und seinem Bruder Arsamene die ursprünglichen Kastraten-Partien inzwischen überwiegend von Frauenstimmen in Männergewändern gesungen werden. Für das Staatstheater Augsburg hat nun die junge Regisseurin Claudia Isabel Martin die Oper auf der Bühne des Martiniparks inszeniert. Eine szenische Einrichtung, die auf leichten Füßen wandelt, ohne dabei in belangloses Gebiet zu geraten.
Die Regisseurin setzt den Akzent auf das Humoristische dieser Oper, mit der Händel und sein Librettist weder dem Typus der Opera seria folgten noch eine reine Buffa im Sinn hatten, sondern einer Mischform den Vorzug gaben. Das Komische zieht in die Handlung insbesondere durch die Figur des Dieners Elviro ein. Aber auch die anderen Figuren haben, bei allen Schmerzen mit der Liebe, eine nicht ganz ernst zu nehmende Seite an sich, Perserkönig inklusive, der bekanntlich in seiner Auftrittsarie einen Baum anschmachtet. Durch treffsichere Figurenführung gelingt es Claudia Isabel Martin, diese Doppelgesichtigkeit des überwiegenden Teils des siebenköpfigen Sänger(innen)septetts herauszumodellieren. Zusätzlich reizvoll dabei, dass die Regisseurin Ernst und heiteres Spiel stets in Balance zu halten versucht, aber auch, dass die besungenen Gefühle und die daraus resultierenden Affekte nie der Lächerlichkeit preisgegeben werden.
Unverzichtbar für die Augsburger Neuinszenierung: die Drehbühne
Claudia Isabel Martin weiß auch um die Gefahr der Monotonie, die sich beim heutigen auf andere Sensationen geeichten Hörer bei barocken Opern rasch einstellt. In Augsburg wird gegengesteuert mit viel Aktion auf der Bühne, auf der die drehbare Scheibe immer nur wenige Minuten zum Stillstand kommt. Das Bühnenbild (Katharina Laage) ist so einfach wie funktional, orientalisch stilisierte Mauer, Treppe, Tür- und Fensteröffnungen, eine Szenerie, die durch die Positionswechsel mittels Drehbühne in wechselreichen Perspektiven erscheint. Ein Übriges zur Vermeidung szenischer Schwerfälligkeit tut auch der permanente Einsatz der Videoprojektion, was auf Dauer allerdings so wirkt, als sei das Produktionsteam vom Horror vacui, von der Angst nach ungenügendem visuellem Reiz befallen gewesen. Der permanenten Ansicht projizierter Protagonisten-Gesichter in Nahaufnahme bedarf es eigentlich nicht.
Natalya Boeva spielt den Serse als normalen Menschen, heftig gerührt und geschüttelt von Verlangen, Ablehnung und allerlei Intrige. Sängerisch gibt die Mezzosopranistin der Partie das nötige royale Volumen mit, das sie in "Ombra mai fu" vorzüglich zu kontrollieren versteht, während sie bei rascherem Tempo und bei Spitzentönen nicht immer verleugnen kann, dass ihre Stimme primär auf den postbarocken dramatischen Gesang ausgerichtet ist. Der Sopran von Talia Or, Interpretin der von Serse umworbenen Romilda, ist schlanker, leicht gelingen Koloratur und auch der neckische Tonfall zu Beginn; wo sie jedoch selbst Betrogene ist, wünschte man sich etwas stärker aufgetragene Dunkelfarben.
Dirigent Ivan Demidov sorgt bis zuletzt für Frische
Wesentliche Eckpfeiler der insgesamt bemerkenswerten Ensembleleistung sind Luise von Garnier als Arsamene und Kate Allen in der Rolle der vergessenen Serse-Verlobten Amastre, beide glaubhaft und gestaltungssicher die wunden Seelen hervorkehrend. Olena Sloia changiert zwischen Leichtlebigkeit und Intrigantentum, die mit Shin Yeo und Wiard Witholt besetzten Männerrollen Elviro und Ariodate fügen sich mit ihren baritonal-flexiblen Stimmen bestens ein in das quirlig-bewegte Gesamtkonzept. Die Augsburger Philharmoniker sind auf rund zwei Dutzend Musiker reduziert, bei der Premiere bedurfte es einiger zurückzulegender Nummern, bevor die Artikulation die für Händel unverzichtbare Präzision und Schärfe besaß, während silbriger Streicher-Schmelz von Anbeginn vorhanden war. Auch Ivan Demidov benötigte am Pult etwas Anlauf, sorgte aber in der zweiten Hälfte – auch als Cembalist der Secco-Rezitative – maßgeblich dafür, dass der Aufführung die Frische erhalten blieb.
"Freude lacht dem Herzen", singt der Chor im Finale, doch einem ist so gar nicht zum Freuen zumute: Serse – Natalya Boeva zeigt es anrührend – bleibt verletzt, kann sich (vorerst?) nicht versöhnen mit dem Bruder, zusammenkommen mit der neu erkannten Verlobten. Der Oper kein Jubel-Ende zu verpassen gehört nicht zum geringsten Verdienst dieses Augsburger "Serse".