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München
Ein Befreiungsschlag an den Kammerspielen
Die Regisseurin Jette Steckel bringt Tschechows "Die Vaterlosen" in München auf die Bühne und stellt damit auch die Generationenfrage: aberwitzig und bejubelt!
Richard Mayr
 |  aktualisiert: 11.03.2024 11:41 Uhr

Im Fußball würde man von einem Befreiungsschlag sprechen. Das Publikum nach vier Stunden Theater satt hellauf begeistert. Und wer saß da alles auf den Plätzen, um diese Premiere in den Münchner Kammerspielen zu sehen. Tatort-Kommissar Axel Milberg, die Intendanten-Legende Claus Peymann, Augsburgs ehemalige Theater-Intendantin Juliane Votteler, um nur ein paar Namen zu nennen. Das Interesse an der Inszenierung von Tschechows "Die Vaterlosen" an den Münchner Kammerspielen war groß, die Begeisterung hinterher größer.

Wären alle Abende an den Kammerspielen wie dieser gelungen, müsste sich Intendantin Barbara Mundel vor dem Münchner Stadtrat nicht rechtfertigen für zu geringe Einnahmen wegen mangelnder Auslastung. Nun also stand ein Klassiker im Spielplan – Anton Tschechow mit seinem ersten Drama "Die Vaterlosen", auch als "Platonow" bekannt. Regisseurin Jette Steckel inszenierte erstmals in München, ebenfalls gab dort der Schauspieler Joachim Meyerhoff sein Debüt, der seit 2019 ja eigentlich in der Schaubühne Berlin zu sehen ist. Und hinterher ist klar: eine perfekte Mischung das alles. 

Der Nationalismus im Zug des Ukraine-Krieges spielte keine Rolle

Denn Steckel und ihre Dramaturgen Emilia Heinrich und Tobias Schuster haben gleich einmal die erste Klippe elegant umschifft: den Nationalismus in Zeiten des russischen Ukraine-Krieges. Die Frage, ob und wie der russische Dramatiker heute in Anbetracht des Krieges gespielt werden dürfe, spielte bei ihnen eigentlich keine Rolle. Tschechow diente nicht als Ausdeuter und Erahner der russischen Seele, wurde ebenso wenig als Repräsentant für alles Russische gesehen, sondern einfach nur als Weltliteratur. Und die Frage, die das Inszenierungsteam mit diesem Tschechow umtrieb, war der Generationenkonflikt, den es im Stück gibt, der nun kurzgeschlossen werden soll mit der Generationenfrage in der Gegenwart. Zum Beispiel ist es ja gerade in Mode, dass die Generationen X, Y und Z sich an den Babyboomern abarbeiten – etwa im Hinblick auf den Klimawandel. 

Schon bei Tschechow führt das generationenübergreifende Gesellschaftstableau nicht in eine bessere, sondern in eine schlechtere Zukunft. Die Generalswitwe will ihren Bankrott nicht wahrhaben, der Gutsbesitzer wiederum nicht, dass die Schulden der Witwe bei ihm nicht reichen, um sie zur Heirat zu überreden. Der Oberst im Ruhestand erzählt Heldengeschichten vom Krieg. Und die Frauen sehnen sich nach einer Beziehung, aber im Dorf kommt dafür nur der Dorfschullehrer und Oberzyniker Platonow als Mittel gegen die Einsamkeit infrage, der spätestens mit dem nächsten Schluck aus der Pulle seine Liebesschwüre von eben schon wieder vergessen hat.

Mitleid kommt mit diesem Platonow nicht auf

Der Birkenwald ist ein Meer von Stäben, durch die Mann und Frau sich nicht nur schlängeln kann, in denen man sich auch verheddert. Und Platonow nutzt diese Stäbe auch als Außenskelett, und dann steht dieser Kerl, der mit seinem Geplauder, mit seiner Direktheit, mit seinem Charme und mit seinen plötzlichen, direkten Attacken und Beschimpfungen alle bezirzen kann, wie ein Aufgespießter da. Aber Mitleid kommt mit ihm nicht auf, darauf achtet das Theatertier Joachim Meyerhoff meisterhaft bei aller schauspielerischen Verführungskunst. Sein Platonow kreist letztlich doch nur um sich.

Es wird viel geplaudert, zynisch kommentiert, durch die Publikumsreihen hindurch gelaufen. Es wird vor allem gespielt: Das Ensemble der Kammerspiele glänzt, ob nun Wiebke Puls, Thomas Schmauser, Edmund Telgenkämper, Walter Hess, die schon lange am Haus sind, oder Bernardo AriasPorras, Katharina Bach, Abel Haffner, Anna Gesa-Raja Lappe, Martin Weigel oder Edith Saldanha. Gespielt wird mit den Figuren, mit dem Publikum, mit dem Stück. Auf der Bühne steht nämlich auch Carl Hegemann als Carl, früher einmal Chefdramaturg der Berliner Volksbühne in den legendären Castorf-Jahren. Er ist an dem Abend so eine Mischung aus neu eingeführter Figur und realer Person, der Brückenschlag in die Gegenwart, Kommentator, Moderator, Improvisator. Tschechows Figuren begegnen auf der Bühne immer wieder einem, der gar nicht zum Stück, zum Spiel, sondern zur Welt da draußen gehört. 

Und Hegemann wiederum lädt zu jeder Vorstellung einen anderen Gast ein, der teilweise ebenfalls auf der Bühne ist. Bei der Premiere war es der österreichische Regisseur Ulrich Seidl, der für seinen letzten Film "Sparta" in die Kritik gekommen ist, weil ihm vorgeworfen wird, die am Film beteiligten Kinder nicht ausreichend geschützt zu haben. An diesem Abend wird er von Hegemann auch gefragt, ob er als Vater gescheitert ist – "Alle Eltern scheitern" – und ob er seine Kinder geschlagen hat – "Soll ich jetzt hier beichten?". 

Fast vier Stunden dauert das bei der Premiere. Langweilig wird es nie. Das Publikum jubelt. Mit nach Hause nimmt es von "Die Vaterlosen" mehr als genug.

Weitere Termine am 6., 14., 16., 28. und 29. Juni sowie im Juli.

 
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