
Es ist der letzte Tag des Jahres 2022, für viele ein Jahr der Krisen, Pleiten, ernsten Sorgen. Aber da trifft wenigstens noch eine gute Nachricht auf Erden ein: Die Gerüchte sind wahr ... Elvis lebt! Tatsache. Und seine Wiederauferstehung feiert der hüftflexible Halbgott ausgerechnet in Augsburg. In der Puppenkiste. Denn hier gibt ein frisch geschnitzter Mini-Elvis an Silvester sein erstes Konzert: Lederjacke, schwarz-weißes Knacki-Shirt, dolle Tolle, alles sitzt und schon wackelt die Bühne zum „Jailhouse Rock“. Auch Elvis’ Band von Häftlingsbrüdern mit Gitarre geht tief in die Knie. Was für eine Show. Da jubelt das Publikum fast wie anno Elvis Presley Original – Bravo-Rufe, glückselige Gluckser im ganzen Saal. Denn die Puppenkiste eröffnet mit diesem Elvis ihr neues Kabarett. Das Format erlebt damit wieder seine traditionelle Silvester-Premiere, nach Pandemie-Pausen und Verschiebungen. Und dieser Abend ist zudem der Auftakt für das Jubiläumsjahr 2023: 75 Jahre Puppenkiste. Die Kabarett-Revue geht dem großen kleinen Zauber aus der Kiste nun auf den Grund.
Der Kasperl grüßt wieder zum Puppenkisten-Kabarett
„Griaßt’s eich, liabe Bubala und Mädala!“, japst der Kasperl mit seiner spitzen Mütze – und da schwäbelt zum ersten mal an diesem Abend die Stimme des Chefs persönlich: Klaus Marschall. Leiter des Traditionstheaters, Regisseur des Abends, der Mann hinter dem Kasperl. Was er für die Revue verspricht, ist Musik, Tanz, Clownerie, ja „das Beste“ aus sieben Jahrzehnten Kabarett. Was bedeutet: Sketche, Gags im Sekundentakt und, das zeigt sich bald, auch die ein oder andere Pointe aus dem Furzkissen- und Nudelholz-Humorregister. Oder wie es der Kasperl formuliert: „Passend zur Lage: Sparwitze.“ Womit die Kiste schon bei der Politik landet.
Was der Nockherberg für die Starkbier-Politetage bietet, schustert dieses Marionetten-Kabarett ins Kleinformat um. Trotzdem, keine Angst vor großen Bühnen: Szene eins, ein Mini-„Wetten, dass ...?“, Auftritt Thomas Gottschalk vor dem Promi-Sofa. Heute Werbefigur für Hörgeräte, kriegt der Moderator mit den Locken seine Texte – gut hörbar für den ganzen Saal – von der Regie ins Ohr eingeflüstert. „Ach das hat mich jetzt aus dem Konzept gebracht“, sagt er. „Aber ich hatte ja eh keins.“ Wie fies, den in die Jahre gekommenen Showmann auf die Schippe seiner eigenen Baggerwetten zu nehmen – aber wer kann das einer harmlosen Puppe am Faden schon krumm nehmen? Darin liegt die dreiste wie charmante Magie des Formats.
Olaf Scholz, Baerbock und Habeck treten in der Puppenkiste auf
Gottschalks Stargäste: bundespolitische Elite. Kanzler Olaf Scholz tritt auf, schlumpfartig, mit angeknautschter Mine. Karl Lauterbach wettet, er könne an gebrauchten Masken erschnüffeln, wer sie getragen habe. Duftnote Weihrauch? Angstschweiß? „Ja dat is ... Kardinal Woelki.“ Vor allem aber besticht die Liebe zum Detail in den Minen dieser Figuren: Baerbocks strenger Blick, Habecks wuschelhaarige Philosophen-Aura.
Aber trotz Gagsalven über Klimaklebeproteste, Bahn-Pannen und Cannabis-Legalisierung – das Herz dieses Abends schlägt für die Kleinkunst. Varieté. Artistik. Tradition. Manege frei für den Flohzirkus: Aus dem Grammophon scheppert der „Einzug der Gladiatoren“ und wie von Geisterhand hebt sich auf einen Wink des Direktors eine Hantel. Natürlich sind die Muskel-Flöhe so klein, dass sie kein Auge erspäht. Illusionen mit Poesie, über die man Lächeln muss.
In weiteren tierischen Rollen: Ein irischer, stepptanzender Tausendfüßler, der Michael Flatley zum Plattfuß degradieren könnte, nicht mit hunderten Füßen, aber an gefühlt hundert Seilen, ohne Fadensalat. Was nur noch mehr Respekt für diese Spielkunst einflößt.
Das Urmel singt der Puppenkiste zum 75. Geburtstag ein Lied
Außerdem: King Kong am Hochhaus, er wirbelt die weiße Frau in den Schleudergang, zum Song „I’m just a Gigolo“. Und wer für Pointen wie die folgende eine ganze Kulisse erdenkt und baut, Figuren schnitzt und arrangiert, der liebt sein Metier: Licht an. Ein Storch flattert in eine Bankfiliale herein, mit einer Pistole unterm Flügel, und schnattert den Mann hinter dem Tresen an: „Kröten her!!!“. Licht aus. Gelächter.
Rührend dagegen ein kurzer Blick in die Werkstatt, als gespielter Sketch: Eine junge Puppenmacherin, aus Fleisch und Blut, guckt plötzlich aus der Bühne heraus. Mit der Schürze um den Hals schnitzt sie nun ein Köpfchen, dann einen Torso. Und dann entwickelt die Puppe ihren eigenen Kopf: Fordert Arme, Beine, läuft und stolpert, erhält darauf noch eine Brille. Geppetto und Pinocchio? Eine Liebeserklärung an das Puppenspiel.
Zum Finale klingt eine Musiknummer, arrangiert für das Jubiläum. Dass sich das Theater dabei aus der ollen Kiste der Charts von 1999 bedient und den „Mambo No. 5“ in der Variante von Lou Bega aneignet – nicht sehr originell, aber schnell verziehen. Einfach herzzerreißend, wenn das Urmel mit Schnuller aus der Kiste hüpft, zischt und singt: „Ein großes bisschen Liebe brachte uns hierher.“