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München
Aktuell, eindrucksvoll, klischeefrei: Das Musical "Die Wüstenblume" in München
Das Musical "Die Wüstenblume" feiert Premiere im Deutschen Theater München. Dabei gelingt dem Regisseur Gil Mehmert, das schwere Thema Genitalverstümmelung mit dem musikalischen Entertainment zu verbinden.
Barbara Reitter
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:20 Uhr

Eine kleine Maschine landet in der somalischen Wüste. Das Supermodel Waris Dirie steigt aus und zieht ihre roten Highheels aus. Weg ist der Glamour-Effekt. Einheimische strömen in wallenden Gewändern zur Begrüßung heran, staunen, jubeln, tanzen. Das Filmteam ist sauer, es wartet für seine Dokumentation auf die Mutter des Stars aus London. Der Clash of Cultures ist mit allen Sinnen spürbar. Da fallen typische Sprüche aus der rassistischen und sexistischen Ecke. Mit dieser Rückblende beginnt das Musical „Wüstenblume“, das in drei spannungsgeladenen Stunden das Leben von Waris Dirie skizziert. Eine emotionale Aufführung, die nach der Premiere am Deutschen Theater München mit Stehapplaus gefeiert wurde.

Wohl jeder Besucher mag sich im Vorfeld gefragt haben, wie das zusammengeht: musikalisches Entertainment zum verstörenden Thema Genitalverstümmelung. Doch Gil Mehmert entwickelte aus dem Bestseller der Betroffenen, der in den 90ern erschien und verfilmt wurde, eine starke Szenenfolge mit den entscheidenden Stationen des somalischen Nomadenmädchens, das mit dreizehn Jahren vor der Zwangsverheiratung mit einem Greis flieht, nach gefährlichen Situationen in London landet, dort als illegaler Underdog ausgebeutet und gedemütigt wird, bis ihr der Durchbruch zum Supermodel gelingt.

"Wüstenblume" erzählt die Story als Musical ohne Sentimentalität

Als Regisseur erzählt Mehmert die Story ohne Sentimentalität, aber mit der Wucht starker Gefühle. Für sein Konzept hat er typische, aber auch extreme Szenen gefiltert, die in wenigen Strichen ein rundes Bild von Waris Dirie ergeben. Für das aufmüpfige junge Mädchen in Afrika fand er die intensive Naomi Simmonds; die Erwachsene verkörpert Kerry Jean, zwei perfekte Besetzungen. Besonders die Ältere singt nicht nur kraftvoll, sie macht auch darstellerisch den schweren Weg nachvollziehbar. Naiv, unbeholfen, trampelig entwickelt sie sich zur geschmeidigen Wildkatze und zur kämpferischen Frau. Der Abend endet gegen jede Mainstream-Musical-Tradition ohne Happy End – stattdessen mit einem Auftritt als Botschafterin für Frauenrechte vor den Vereinten Nationen in New York. 

Trotz der bitteren Botschaft gelingt ein fulminanter Theaterabend mit hohem Unterhaltungswert – und das, obwohl im Subtext immer eine Anklage mitschwingt und man zwangsläufig an die Geschichten von Flüchtlingen heute denkt – und das nicht nur beim Song „Hunger, Durst und Angst“ als ständige Begleiter. Wie Mehmert das inszeniert, ist effektvoll, sehr plakativ und fast minimalistisch in den Mitteln. Meist ist die Bühne leer, manchmal deutet ein Versatzstück den Ort an. Dafür sprechen die Farben (Bühne Austin Barrecca, Kostüme Claudio Pohle). Brauntöne für den Wüstensand, überwältigende Farbenpracht bei den afrikanischen Kreationen. Kühles Grau im Londoner Nebel, dafür höchste Eleganz, wenn die Models ihre Mode vorführen.

An der überraschend originellen Choreografie wirken 20 Darsteller mit

Regisseur Mehmert zaubert großartige Bilder aus dem Nichts, bei denen Videoeinblendungen und Bühnengeschehen effektvoll ineinander gehen. Dazu kommt die überraschend originelle Choreografie der 20 mitwirkenden Darsteller/Tänzer/Sänger in wechselnden Rollen, die mit beeindruckender Dynamik und Power, aber auch mit witzigen Brüchen agieren. Insgesamt ein tolles Ensemble, selbst Nebenrollen wie die Chefin der Model-Agentur haben amüsante Auftritte – und faszinierende Stimmen. 

Auf die echten Ohrwurm-Melodien wartet man allerdings vergeblich – und das, obwohl Uwe Fahrenkrog-Petersen den von vier Musikern intonierten Sound komponiert hat. Alles wirkt eingängig, afrikanische Rhythmen inklusive, mal wird ein Tango zitiert. Nur ein einziger Song hat Mitsing-Qualität: das Lied vom Regen, der die „Wüstenblume“ zum Strahlen bringt.

Läuft bis zum 15. Oktober im Deutschen Theater München.

 
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