Die durchgetaktete Welt von Rock und Pop macht es vor. Wer dort eine Rolle spielen will, der verlässt sich besser nicht auf den Faktor Zufall. Sicherlich gab es auch in diesem Segment mal das jazztypische Phänomen der Telefonband. Aber Eintagsfliegen wie Blind Faith oder Joy Division bekämen heute wahrscheinlich keinen Fuß mehr in eine Halle oder ein Aufnahmestudio. Die Rolling Stones, AC/DC oder Metallica dagegen haben für ihren Goldesel-Status viel Durchhaltevermögen an den Tag gelegt und durch sture Beharrlichkeit ein bombenfestes Fundament geschaffen, das jeden Zeitgeist überdauert.
Manchmal probieren auch Formationen, die den Aufkleber „Jazz“ tragen, das Ding mit der Langlebigkeit aus. Martin Tingvall (49), Omar Rodrigues Calvo (50) und Jürgen Spiegel (51) feiern zum Beispiel in diesem Jahr ihr 20. Bandjubiläum. Von Beginn an agieren die unter dem Prädikat „Tingvall Trio“ bekannten Musiker in ein und derselben Besetzung. Inzwischen spielen sie in aller Herren Länder und längst nicht mehr vor zwei Zuschauern, von denen der eine der Barkeeper war. „Ja, das ist eine Entwicklung, über die ich immer noch staunen muss“, lächelt Pianist und Namensgeber Martin Tingvall. Bei anderen Bands gehöre der personelle Wechsel zum guten Ton. „Aber wir brauchen das offenbar nicht. Wir genießen es schon ein bisschen, die Ausnahme der Regel zu sein.“
Auch das Tingvall Trio durchlief mehrere Stufen
Wie funktioniert so ein Widerspruch in sich, also eine langlebige Jazzband? „Vielleicht wie eine Dreier-Ehe, die mehrere Stufen durchläuft“, antwortet Tingvall. Nach der Phase des Sich-Verliebens folgt das Aneinander-Gewöhnen, kleine Krisen inklusive, bis man schließlich seinen inneren Frieden mit den Partnern schließt, um ihnen so lange wie möglich treu zu bleiben. Bis dass der Tod sie scheidet? Im Falle des Tingvall Trios führte das Schicksal natürlich kräftig Regie. Bernd Skibbe, Mitinhaber des Hamburger Labels Skip Records, erinnert sich an jenen Tag im Jahr 2005, als es an der Tür klingelte. „Die Branche befand sich gerade in heftigen Turbulenzen, illegale Musikdownloads waren zum Volkssport geworden, die großen Player hatten die digitale Musikentwicklung und -vermarktung verschlafen und es ging eigentlich ums nackte Überleben. Aber wie so oft war es ein unfassbarer Zufall, der diese angespannte Lage in eine der größten Erfolgsgeschichten des deutschen Jazz verwandelte“, schreibt Skibbe in einem Fotobuch, das Skip anlässlich des seltenen Bandjubiläums veröffentlichte.
Heute gehört das Tingvall Trio zu den gefragtesten Piano-Dreiecken Europas. Dreimal gewannen die überzeugten Hanseaten aus Schweden, Kuba und Bremen den ECHO Jazz sowie sechs Jazz Awards in Gold, ihre Alben klettern regelmäßig auf die Poleposition der Jazzcharts und landeten mehrfach in den Pop-Top-100. Alle bisherigen Studioveröffentlichungen erreichten Goldstatus, auch weil die Musiker goldene Brücken zu Leuten bauen, die sich normalerweise nicht für Jazz interessieren. Dabei ging es den Tingvalls nie ums bloße Kalkül, sondern in erster Linie um Vermittelbarkeit und einen roten Faden, der aus der Beständigkeit Kraft schöpft. Von dieser Basis aus verweben sie griffige, bildhafte Melodien, poetische Balladen und energetische Rhythmen zu einer eigenen Bild- und Klangsprache, balancieren geschickt zwischen Rock, Pop und swingend tanzbaren Jazzformen, scheuen aber auch nicht davor zurück, mit arabischen Sounds, lateinamerikanischen Rhythmen und skandinavischen Balladen zu experimentieren.
Ohrwürmer, Balladen, politische Botschaften
„Im Prinzip hat sich nach 20 Jahren nichts Wesentliches bei uns verändert“, versucht sich Martin Tingvall an einer Zwischenbilanz. „Klar: Wir hatten damals keine Familien, keine Kinder, die Situation war eine völlig andere. Wir spielten vor knapp 100 Leuten, inzwischen kommen 1600. Für mich gibt es da dabei aber keinen Unterschied zwischen klein und groß. Der eigentliche Spaß für das Publikum und uns liegt doch darin, dass wir uns gegenseitig mit den Jahren noch besser kennenlernen, das Zusammenspiel verfeinern konnten. Wir sind zum Beispiel beim Aufnehmen viel mutiger geworden.“ Das aktuelle Album „Birds“ (Skip/Soulfood), eine Hommage auf Vögel, „die Musiker der Natur“, bietet jede Menge Belege dafür, mit klassischen Ohrwürmern wie „Woodpecker“, „Hummingbird“ oder „Africa“, fein schimmernden Balladen wie „The Day After“ oder politischen Botschaften wie „Call For Peace“ oder „SOS“.
Manchmal, erzählt Martin Tingvall, der am 13. September mit den Piano-Kollegen Sebastian Knauer, Joja Wendt und Axel Zwingenberger im Rahmen des Festivals Mozart@Augsburg auftritt, da spüre das Publikum am Anfang eines Konzerts, dass die Band gar nicht wisse, wohin es eigentlich gehen soll. Dann ließen sich die drei Freunde einfach fallen und es geschehen. „So etwas wäre früher nicht möglich gewesen. Wir sind gewachsen im Laufe der vergangenen 20 Jahre.“ Eine Anti-Telefonband auf dem Zenit, aber noch längst nicht am Ende ihres Musikerlateins.