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Popmusik
Deutsche Gegensätze: Deichkind und AnnenMayKantereit
Geliebt werden beide Bands. Ihre neuen Alben und der Fall Lützerath aber zeigen: Über die Gegenwart erzählen Deichkind und AnnenMayKantereit Gegensätzliches. Wer hat recht?
Wolfgang Schütz
 |  aktualisiert: 11.03.2024 13:14 Uhr

Die einen singen „Als ich jung war“ und erinnern sich an Zeiten, als es noch kein Internet gab, Telefone Kabel hatten und Linda de Mol eine Berühmtheit war. Die anderen singen über „Kids in meinem Alter“ und charakterisieren die doch vermeintlich erwachsenen: „Denken sie verstehen Kunst“ und „Gefährliches Halb-Googlen“, „Gehen skaten mit Helm“ und „Kiffen mit Cis-Männern“, „Suchen die Challenge, wähl’n grün“ und „Gucken nach atemberaubenden Gartenlauben“ … Aber jetzt raten Sie mal: Wer davon sind die Um-die-30- und wer die Um-die-50-Jährigen? 

Deichkind mit dem Album "Neues vom Dauerzustand"

Neulich jedenfalls spielte diejenige dieser beiden innig verehrten deutschen Star-Kombos vor Ort zu den Massenaufläufen gegen den Kohlebergbau in Lützerath, die deutlich besser zum Durchschnittsalter der Demonstrierenden passte: die Jungs. Das Trio von AnnenMayKantereit, das einst sofort mit Hits wie „Pocahontas“ und „Barfuß am Klavier“ und „21, 22, 23“ startete, auf Tour zum zehnjährigen Jubiläum nun in veritable Popstar-Arenengröße angewachsen ist und demnächst ein neues Album präsentiert: „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“. Typisch. 

Von „Es ist Abend“ bis „Ausgehen“, von „Verliebt sein“ bis „Weißhausstraße“: Diese Band der neuen Innerlichkeit in Altbauwohnungen steht für eine Alltagspoesie, in der sich die Wahrheit des Lebens durch die emotionale Beschreibung der individuellen Wirklichkeit offenbart. Das hier sind mit 30 eben schon augenzwinkernd Nostalgiker, eine Band der Wohlstandsgeneration mit dem Gefühl, die letzte sein sein, gesellschaftsrelevant höchstens im Dank an den alleinerziehenden Vater, selbst der Klimaprotest persönlich: „Habeck, Habeck, du warst mal okay, doch dann kam RWE.“ 

Ach, hätten doch die anderen bei der Demo gespielt! Die nicht der selbst beseelte Gefühlsverstärker ihrer eigenen Generation sind, sondern die ihrer Generation und dem ganzen Zeitgeist gleich mit genialisch einen Vexierspiegel vorhalten: Deichkind! 25 Jahre treibt das Kollektiv um den Hamburger Philipp Grüttering alias Kryptik Joe inzwischen sein Unwesen, hat mit seinem Elektro-Rap-Bastard seit einiger Zeit Seeed in der Rolle als klügste Party der Nation den Rang abgelaufen und veröffentlicht an diesem Freitag das Album „Neues vom Dauerzustand“. 

AnnenMayKantereit mit dem Album "Es ist Abend und wir sitzen bei mir"

Wenn Deichkind in ihren überbordenden, zwischen Kunst und Trash changierenden Inszenierungen schon mal im Bierfass übers Publikum surfen oder Schauspiel-Star Lars Eidinger nackt und kopfüber in leuchtendes Yves-Klein-Blau tauchen und dann als Pinsel über eine Riesenleinwand ziehen: In Lützerath böten allein die durch die Songtexte entstehenden Spannungen ein Spektakel. Und zwar nichts weniger als ein Spektakel der Wahrhaftigkeit! 

Von einst ließen sich bereits in undurchdringlicher ironischer Dichte nahezu Hits mit den Protestierenden feiern: von „(Skandal und) Remmidemmi“ bis „Arbeit nervt“, von „Leider geil“ bis „Richtig Gutes Zeug“ , von „Like mich am Arsch“ bis „Denken Sie groß“ einbauen. Und mit dem neuen, teilweise wieder so klugen wie aberwitzigen Album kämen reichlich Möglichkeiten hinzu. „In der Natur“ etwa nimmt die zeitgeistige Verklärung derselben aufs Korn, die sich offenbart, wenn man sich mal wirklich dieser ausliefert (in Besetzerbaumhäusern): „Ich hänge hier im Wald rum, ohne Hafermilch und Heizung …“ Unvergleichlich (und fast so ikonisch wie in „Leider geil“) reihen Deichkind mit „Merkste selber“ Widersprüche und Absurditäten der Gegenwart aneinander: „Fairphone– aber Apple-Aktien haben“ etwa, auch „Boomer haten, aber Bierschinken aufs Brot“ oder „Kinosterben beklagen, aber dann schön Netflix gucken“ und „Auto-Korso gegen zu hohe Sprit-Preise" … – popkulturell zitierendes und etwa in Lützi doch perfekt platziertes Motto: „Richtung Zukunft durch die Nacht!“ 

Ein Hit wie "Leider geil" ist auch dabei – und Nachricht für Debattendeutschland: "Merkste selber"

Ewige Bedenkenträger, Verunsicherer und Ratschläger bekommen ebenso ihr Fett ab („Nummer sicher“) wie Verschwörungstheoretiker und Trolle („Wutboy“). Und bevor es zur Feier eines durchdrehenden Zeitalters geht, gespiegelt im Deichkind-Wahn mit Knallern wie „Delle am Helm“ und hinreißenden Kooperationen zum Abschied mit Fettes Brot („Mehr davon“), fürs protzig Poppige mit Clueso („Auch im Bentley wird geweint“), ließe sich noch gemeinsam zu einem veritablen Sommerhit schwelgen, natürlich dessen Ironisierung („Coq au Vin, Coco Jamboo, Kokolores“), aber in perfekter Stil-Anverwandlung: „Lecko mio“! 

Statt zu politischen Protestaufmärschen wird es all das in den kommenden Wochen nun freilich in Serie in den großen, ausverkauften Konzerthallen der Republik geben. Und während bei AnnenMayKantereit Gegenwartsseligkeit im mitsingenden Publikum herrschen wird, wird bei Deichkind alles halt- und zeitlos im Rausch versinken. Doch auch in der Show ist es hier so, dass nicht in der vermeintlichen Unmittelbarkeit des wirklichen Lebens, sondern in der Verzerrung der wahrhaftige Blick liegt. Nicht aus der Vergrößerung des eigenen Lebens ins poetisch Autofiktionale ersteht auch im deutschen Pop Kunst – sondern durch die Verzerrung, die uns über uns selber genauso lachen lässt wie über Andersdenkende. Ein bisschen weniger AnnenMayKantereit, ein bisschen mehr Deichkind würde Debattendeutschland gut tun. „Merkste selber, ne?“

 
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