Steile These, einfach mal so in den Raum geworfen: Martial Solal ist der beste Jazz-Pianist aller Zeiten. Aber wie soll man dann eigentlich mit Keith Jarrett, Bill Evans, Thelonious Monk, Art Tatum, Erroll Garner, Cecil Taylor oder Bud Powell umgehen? Was die Säulenheiligen im Einzelnen auszeichnet– nämlich Jarretts Fähigkeit, sich in einen Rausch hineinzuimprovisieren, Evans’ tiefgehender lyrischer Anschlag, Monks verschroben-geniale Harmonik, Tatums rasende Hetzjagden über das Elfenbein, Garners wechselnde Funktionen beider Hände, Taylors Radikalität, alle Grenzen niederzureißen, oder Powells treibender Bebop –, das alles vereint der französische Tasten-Großmeister in einer Person; oder besser: in zehn Fingern, zwei Füßen – und einem Kopf.
Jazz-Pianist Martial Solal spannt einen erst mal auf die Folter
Das Unerwartete scheint bei Martial Solal immer logisch zu sein. Denn eigentlich sollte ja schon längst Schluss sein. 95 ist er im August geworden, längst rührt er keine Taste mehr an. Aber sein eigentlicher Wert lässt sich gerade durch die fast hymnisch zelebrierten Veröffentlichungen seiner letzten Konzerte erahnen, die zwischen dem Jahreswechsel 2018/19 über die Bühne gingen. „Live In Ottobrunn“ (GLM/edel) ist so ein Beispiel atemberaubender, einzigartiger Klavierkunst. Da erklingt zunächst im Eröffnungsstück nur ein D, das einen erst auf die Folter spannt, bis ein pianistischer Wirbelsturm folgt: Expressionistische Disharmonien lösen sich in Blue Notes auf, Glissandi-Läufe münden in lange ausgehaltene Akkorde, klassische Motive verschmelzen mit Anklängen an die halbe Jazzgeschichte. Wie unter dem Brennglas ließ der knollennasige Gallier in dem Münchner Vorort sein Leben und seine Einflüsse Revue passieren. In unfassbarer Spiellaune setzte Martial Solal zu einem genialen Rundumschlag an – eine Art Vermächtnis. Denn danach war definitiv Schluss für den Solitär der Jazz-, nein, viel zu wenig: der Musikgeschichte.
Alter Musikerscherz im Mai, um den schleppenden CD-Verkauf anzukurbeln: „Haben Sie schon ein Weihnachtsgeschenk?“ Darauf könnten Quadro Nuevo eigentlich das Urheberrecht beanspruchen, denn für die vier ebenso geschäftstüchtigen wie talentierten Musiker ist theoretisch immer Weihnachten. So dürfte man auch ihr neues Album „December“ (GLM/edel) fast als die inzwischen vierte (!) klingende Geschenkidee aus ihrer Klangküche verstehen. Immerhin gibt es mit „O Tannenbaum“ und „I’ll Be Home For Christmas“ als Gypsy-Swing wieder zwei weihnachtliche Weisen. Der Rest aber sind Kirchenlieder, deren Entstehung vom 16. („Befiehl du deine Wege“) bis ins 20. Jahrhundert (Dietrich Bonhoeffers„Von guten Mächten wunderbar geborgen“) reicht. Klingt alles überaus delikat und atmosphärisch, häufig mit dem stimmführenden Mulo Francel an Saxofon und Klarinette. Zum besten Stück gerät freilich „Maria durch ein Dornwald ging“ mit Tim Collins am Vibrafon und dem Gitarristen Philipp Schiepek, deren wunderbare Soli dem Ganzen kurz, aber prägnant ein Schneekrönchen aufsetzen.
"Alle Jahre wieder" von der Jazzrausch Bigband
Auch die Münchner JazzrauschBigband, jenes umtriebige Orchester, das seit Jahren und mit ständig wachsendem Erfolg Jazz, Swing, Techno und Heavy Metal auf einen Nenner zu bringen versucht, hat mit ihrem aktuellen Werk „Alle Jahre wieder!“ (ACT/edel) offenkundig das Fest des Kommerzes im Sinn. Nach dem ersten Schreck, dass die Mann- und Frauschaft der beiden Bandleader Roman Sladek und Leonhard Kuhn noch ein Weihnachtsalbum auf den völlig überhitzten Markt wirft und den Trend mancher Labelkollegen zur kontinuierlichen Beschaulichkeit aufnimmt, folgt die Entwarnung. Jazzrausch kann nicht nur Party, sondern auch Humor. „Alle Jahre wieder!“ packt zwar Besinnlichkeitsgassenhauer von „Maria durch ein Dornwald ging“ bis „Ihr Kinderlein kommet“ ins Programm, verpasst den Melodien aber eine Portion Count Basie, überhaupt eine Menge Swing im Stil der 1930er bis 1950er, sodass man eher an Kurt Edelhagen und Max Greger denkt als an Jingle-Schmelz von Santa Claus. Auf Gesang wird verzichtet, dafür schlendern die Melodien mäandernd und mit fröhlichem Nachdruck durch das Stilkabinett der Nostalgie. Falls der öffentlich-rechtliche Rundfunk also noch eine Bigband braucht …