Als der isländische Gelehrte Jon Gudmundsson endlich erstmals den Schädel eines echten Einhorns zu Gesicht bekam, soll er in schallendes Gelächter ausgebrochen sein. Ja, sogar auf den Boden habe er sich geworfen, zur allseitigen Irritation aller Augenzeugen. So jedenfalls schreibt es der isländische Romanautor Sjon in seinem Buch „Das Gleißen der Nacht“.
Jon Gudmundsson lebte tatsächlich, im 17. Jahrhundert brachte er das Denken der Aufklärung in die von Mythen und Naturgeistern beherrschte Kultur seiner Heimat. Der von Museumsmitarbeitern andächtig präsentierte Kopf mit dem langen Horn auf der Stirn schien ihm gleich verdächtig: So rund, so wuchtig soll der Schädel eines Wesens aussehen, das für seine Ähnlichkeit mit einem Pferd berühmt ist? Der Gelehrte braucht keine Minute, dann steht für ihn die wahre Identität fest. Die vermeintlichen Überreste eines Einhorns: Es ist bloß ein Narwal!
Die Geschichte eines historischen Irrtums
Warum die Menschheit Jahrtausende lang an die Existenz von Einhörnern glaubte und sich selbst vom schallenden Gelächter Jon Gudmundssons noch bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht von dieser fixen Idee abbringen ließ, das haben nun die Kulturwissenschaftler Julia Weitbrecht und Bernd Roling erforscht. In ihrem Buch „Das Einhorn– Geschichte einer Faszination“ (Hanser) erzählen sie die Geschichte eines historischen Irrtums, dessen Wurzel irgendwo tief in der Vergangenheit verborgen liegt.
Wann genau nämlich das Einhorn die Bühne betrat, lässt sich kaum mehr ergründen. Eine erste Erwähnung findet sich im fünften Jahrhundert vor Christus, als der Mediziner Ktesias von Knidos von einer „erstaunlichen Kreatur“ zu berichten weiß, die in Indien beheimatet sei. Ein roter Kopf mit blauen Augen, darauf ein Horn von der Länge einer Elle: Das Fleisch sei ungenießbar, das Horn jedoch ein wahres Wundermittel gegen Epilepsie, Krampfanfälle und diverse weitere Krankheiten. Zu dumm, dass dieses Tier sich durch eine ausgesprochene Scheu dem menschlichen Zugriff entziehe!
Je rarer die Augenzeugen, desto größer die Scheu
Früh erweist sich die legendäre Flüchtigkeit seiner Erscheinung als Behelfsargument für das Kernproblem der Autoren: Schließlich haben weder der Grieche Ktesias noch der Römer Claudius Aelianus (3. Jahrhundert n. Chr.) oder der byzantinische Schriftsteller Kosmas Indikopleustes (6. Jahrhundert n. Chr.) jemals mit eigenen Augen ein Einhorn gesehen. Je rarer die Augenzeugen, desto größer die Scheu. Und je größer die Scheu, umso ungewöhnlicher das Tier. Kaum etwas demonstriert die Wechselwirkung eines Gerüchts so anschaulich wie die Geschichte vom exotischen Pferdewesen mit dem Horn auf der Stirn.
Doch damit aus dem antiken Missverständnis ein Dauerbrenner werden konnte, dem selbst in der Neuzeit lange nicht der Saft ausgehen sollte, musste noch etwas hinzukommen: seine Eignung für eine christliche Mythologie. Das Einhorn bot sich schon allein aufgrund seines hervorstechendsten Merkmals dafür an. Denn was hätte eindrucksvoller auf die Allmacht eines einzigen Gottes im Himmelreich verweisen können als ein singuläres Horn auf einer Pferdestirn? Doch höchstens ein Tier, das die Jungfräulichkeit der Muttergottes ehrt!
Nur eine echte Jungfrau kann das Einhorn zähmen
Genau das wurde dem scheuen Tier schon bald nachgesagt. Jagdglück, so hieß es, sei nämlich allein einer echten Jungfrau vergönnt. Tänzelt die Schöne ihm entgegen (nach Möglichkeit nackt), so wird aus dem scheuen und bisweilen auch aggressiven Tier unversehens ein zutrauliches Schmusekätzchen. Sittsam und still legt es sich in den Schoß, wo es sogleich einschlummert.
Warum ausgerechnet Jungfrauen zu dieser Meisterleistung in der Lage sein sollten, ob das Tier über sein empfindliches Riechorgan wirklich ihre Unberührtheit zu erkennen vermochte: Wissenschaftlich geklärt wurde diese Frage freilich nicht. Dafür haben zahlreiche Künstler diesen Vorgang in opulenten Bildern festgehalten.
Findige Interpreten kamen darauf, im plötzlichen Wandel des Einhorns vom Feind zum Freund eine Entsprechung zum heiligen Paulus zu erkennen. Schließlich hatte der im Angesicht des reinen Guten ja auch auf den Pfad der Tugend gefunden.
Und in der Bildsprache sollte sich zum Motiv der Bekehrung auch bald noch das der Passion gesellen: Denn gefangen wurde ein Einhorn natürlich, um es zu töten. So sehen wir das edle Tier im Schoß der Jungfrau mit einer Lanze in der Flanke sein Leben aushauchen. Spätestens jetzt ist der Bezug zu Jesus Christus nicht mehr zu übersehen. Nur konsequent erscheint es da, dass die Jungfrau bald als Muttergottes im Garten Eden dargestellt wird, während als Jäger der Erzengel Gabriel die Lanze schwenkt.
Doch auch den kritischen Blick auf die Jungfrau gibt es. Denn ist das nicht ganz schön fies, wie sie mit ihrer betörenden Reinheit das arme treue Einhorn zu seinem Schlachtplatz lockt? Im Mittelalter fühlen sich viele Künstler deshalb an die schöne Isolde erinnert, die bekanntlich für den jungen Tristan ihren rechtmäßigen Ehemann Marke hintergeht. Den buchstäblich gehörnten König sehen wir als Einhorn in ihrem Schoß ruhen, während Tristan grimmig den Spieß in seinen Leib rammt.
Erste Zweifel werden angemeldet
So unterhaltsam wie diese Geschichten nimmt sich auch die allmähliche Entdeckung des Irrtums aus. Erste Zweifel meldete bereits der Kirchenvater Albertus Magnus an, der mit einem „dicunt“ (lateinisch für „sie sagen“) zumindest die Legende von der jungfräulichen Jagdlist als Gerücht kennzeichnete.
Im 16. Jahrhundert warf der italienische Mediziner Andrea Marini unbequeme Fragen auf: Wie kann so ein zartes Tier ein so großes Horn tragen? Warum gibt es so unterschiedliche Beschreibungen von ihm? Und aus welchem Grund haben die Römer zwar Löwen, Elefanten und Giraffen in ihrem Zirkus aufeinander gehetzt, niemals aber ein Einhorn?
Die Verfechter des Fabeltiers fanden auf vieles eine Antwort. Zu den unterschiedlichen Beschreibungen: Kein Wunder, wenn der eine eben ein junges Fohlen gesichtet hat, der andere dafür schon ein ausgewachsenes Tier! Zu den Römern: Anders als Elefanten und Giraffen sind die sensiblen Wesen eben schon beim Transport vor Trauer und Melancholie verendet!
Endgültig den Garaus machte dem Einhorn wohl erst ein Boulevardjournalist im 19. Jahrhundert. Dessen reißerische Berichterstattung über Leben auf dem Mond – angeblich entdeckt durch den Einsatz eines neuartigen Teleskops – strotzte nur so vor Übertreibungen. Neben Tannenwäldern, Pelikanen und geflügelten Menschenwesen hatten die Forscher angeblich auch Kreaturen von der Größe einer Ziege gesichtet. Deren auffälligstes Merkmal: „ein einziges ein wenig nach vorne gekrümmtes Horn.“ Leider seien sie offenbar sehr scheu.
Dem Erfinder des Teleskops soll es bei der Lektüre ergangen sein wie einst Jon Gudmundsson bei der Narwal-Besichtigung. Er brach in schallendes Gelächter aus.
Bernd Roling, Julia Weitbrecht: „Das Einhorn– Geschichte einer Faszination“, Hanser Verlag 2023; 176 Seiten, 24 Euro.