
Sie fehlen, seit die runden, schwarzen Scheiben aus vielen Haushalten verschwunden sind. Weil Vinyl wie Bücherregale ihre Besitzer als Kulturmenschen ausweist. Wer einen Lebensraum mit Schallplatten betritt, fühlt sich geistig willkommen. Und animiert, ein bisschen in der Sammlung zu blättern und darüber zu sprechen. Hören wir zum Frühstück Bill Evans oder die Dire Straits? Und kann mal bitte jemand die Platte umdrehen? Im Buch "Die Rache des Analogen" beschreibt David Sax das Schallplatten-Revival vor allem bei Menschen, die LPs nicht aus ihrer Jugend kennen: "Man sieht zu, wie sich die Platte dreht, und es ist, als säße man um ein Lagerfeuer. Es ist hypnotisch."
Und eine hypnotische Geschäftsidee obendrein. Zwar werden gut vier Fünftel des Umsatzes des deutschen Musikmarktes aktuell mit digitalen Angeboten erwirtschaftet, und physische Tonträger wie CDs, Vinyl oder DVDs machen gerade noch etwa 18 Prozent des Kuchens aus, wie der Bundesverband Musikindustrie für das erste Halbjahr 2023 vorrechnet. Allerdings gibt es auch einen anderen Trend: Der Vinyl-Absatz kletterte zuletzt weiter von 3,4 auf 4,2 Millionen (plus 21,9 Prozent) nach oben. Dies waren doppelt so viele Schallplatten wie 2015 und sechsmal so viele wie 2011.
Der Vinyl-Boom macht teure Angebote möglich
Dazu kommt: Der Handel mit den schwarzen Scheiben entwickelt sich vom reinen Nostalgiemarkt zu einem durchaus profitablen Businessmodell. Liebhaber blättern mittlerweile bis zu 400 Euro für eine einzige Langspielplatte auf die (virtuelle) Ladentheke. Dabei geht es keineswegs um ein Beatles-Original, auf dem John, Paul, George und Ringo persönlich unterschrieben haben, sondern um eine aktuelle Veröffentlichung.
Der ungebremste Vinyl-Boom macht es tatsächlich möglich. In den USA wurden erstmals seit 1987 sogar mehr LPs als CDs verkauft, und jeder, der Ende der 1980er Jahre all seine Platten für ein paar Mark verscherbelte, um fortan komplett auf CDs zu setzen, beißt sich jetzt womöglich in den Allerwertesten. Zwar sind die 400 Euro der britischen Electric Recording Company für ihre streng limitierten Fab-Four-LPs eine Ausnahme, aber der Trend zum hochpreisigen Vinyl mit bestmöglicher Klangqualität ist kaum zu übersehen und lockt immer neue Anbieter auf den Markt.
Besonders im Trend liegen die sogenannten audiophilen Versionen aus Jazz-Archiven, wie die Reihen "Tone Poet" und "Blue Note Classic" des Traditionslabels Blue Note. Viele Veröffentlichungen der vergangenen vier Jahre sind allerdings vergriffen. Bis zur (fest versprochenen) Nachpressung von Klassikern von Art Blakey, Chat Baker, Herbie Hancock, Duke Ellington und John Coltrane können findige Käufer bestimmte Platten auf dem Zweitmarkt erwerben – für das Doppelte oder Dreifache des Neupreises von 40 bis 45 Euro. Das US-Label Rhino umgarnt die Connaisseure derweil mit seiner "High Fidelity"-Reihe, limitiert auf jeweils 5000 Exemplare und vertrieben ausschließlich online, was den Preis für europäische Sammler auf rund 70 Euro hochschraubt. Alles kein Problem: Für den optimalen Sound greifen genügend Fans tief in die Tasche.
Die Schallplatte löst Begeisterung und Wehmut aus
Die "Luminessence"-Serie des Münchner Labels ECM kann da mit Klassikern aus dem Backkatalog in audiophiler Vinylversion von Keith Jarrett, Jan Garbarek, Gary Burton, Don Cherry oder Kenny Wheeler locker mithalten. Dass diese Reihe von Fans lange herbeigesehnt wurde, ist insofern erstaunlich, als die ECM-Alben auch schon auf CD durch eine herausragende Klangqualität überzeugen. Aber vielleicht ist es gerade der Akt des Plattenauflegens, diese besondere Konzentration, die damit einhergeht, die Nadel behutsam aufzusetzen, die für einen zusätzlichen Kick sorgt, sowie der besondere Genuss des Anfassens und Sehens – gerade weil Letzteres beim Semi-Kunstwerk "Plattencover" das Gesamterlebnis komplettiert. Und es knistert. Das löst Begeisterung und Wehmut gleichermaßen aus, nach einer Zeit, in der man noch dachte, die Zukunft sei eine tolle Sache. Heute weiß man, dass die Zukunft dahin geführt hat, dass Musikerinnen und Musiker um ihre Urheberrechte kämpfen und dass Streaming im Vergleich zum warmen, schwarzen Vinyl eine kalte, sterile Angelegenheit sein kann.
Nicht nur im Jazz scheinen die finanziellen Spielräume derzeit grenzenlos. Die Deutsche Grammophon bietet ihre rein analoge Vinylserie "The Original Source" (die Originalquelle) an. Dazu verwendete man die originalen Vier-Spur-Bänder aus den 1970er Jahren und in "100% analoger Qualität", neu gemastert und geschnitten, mit Deluxe-Klappcover, limitiert und sogar nummeriert. Die klanglichen Unterschiede zu den Originalveröffentlichungen seien beträchtlich, heißt es ganz unbescheiden. Die "Schätze" bestehen aus den Berliner Philharmonikern und Herbert von Karajan (Verdis "Messa da Requiem") sowie den Wiener Philharmonikern unter Carlos Kleiber (Beethovens Siebte). Kostenpunkt: 40 bis 65 Euro. Keine Schnäppchen, aber deutlich günstiger als die jüngste Veröffentlichung der Electric Recording Company: Für eine Doppel-LP mit Bachs Brandenburger Konzerten sind hier 750 Euro fällig.
Die Sehnsucht nach Haptik wächst
Die Hauptursache für das Knister-Revival liegt tatsächlich im Hier und Jetzt. Im durchdigitalisierten Alltag wächst die Sehnsucht nach diesem besonderen haptischen Akt: In die Hand nehmen, aus der Hülle ziehen, mit den Fingerspitzen wenden, Staub abwischen, auf den Plattenspieler legen. Und, nicht zu vergessen: Mit dem Auflegen einer Schallplatte erwachen Erinnerungen. Wo habe ich die Platte gekauft? Wann habe ich sie das letzte Mal gehört? Oder das erste Mal? Viele Menschen erinnern sich an ihre erste LP. Wer erinnert sich schon an seinen ersten Musik-Download?