zurück
Musik
Musiker fühlen sich von Künstlicher Intelligenz gefährdet
Auch die Musikindustrie spürt die Folgen des rasanten technischen Fortschritts. Nie war Komponieren einfacher als heute. Aber was passiert, wenn Computer noch mehr können?
Reinhard Köchl
 |  aktualisiert: 18.04.2024 02:46 Uhr

Sie wirkt bedrohlich wie das gigantische Ufo in Roland Emmerichs Blockbuster „Independence Day“: Keiner weiß, was als Nächstes passiert. Das Schreckgespenst der Musik im 21. Jahrhundert heißt „Künstliche Intelligenz“. Es mutet wie die ultimative Gefahr für alles an, was unter dem Begriff "menschliche Kreativität" firmiert. Spontaneität, Emotion und Überraschungen erscheinen plötzlich wie ein Anachronismus. Wer früher Musik machen wollte, musste viel können. Heute reichen ein Prompt und ein KI-Modell. 

Mit den neuen KI-Werkzeugen ist jeder in der Lage, Songs zu schreiben und produzieren. Apps komponieren, erkennen Töne und Akkorde, platzieren Noten, vervollständigen Partituren. Das schürt Ängste. Werden Notenverlage überflüssig? Verlieren Komponistinnen und Komponisten ihre Arbeit? Sind Genies wie Lennon/McCartney, Mozart oder Gershwin irgendwann entbehrlich, weil Computerprogramme statt ihrer Hits am Fließband erzeugen? Den angeblich ultimativ letzten Beatles-Song „Now And Then“, veröffentlicht im November 2023, hätte es sowieso ohne den Einsatz von KI nie gegeben.

Streaming und Algorithmen stellen Musikindustrie vor Herausforderungen

Fest steht: Die Musikindustrie steht vor einem gravierenden Umbruch. Ob dieser ein Fluch oder ein Segen wird, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die Veränderungen haben allerdings längst begonnen. Streaming, Cloud-Computing und Algorithmen bestimmen die Musiklandschaft und beeinflussen nicht nur die Charts. Künstliche Intelligenz revolutioniert auch die Art und Weise, wie wir Musik wahrnehmen und konsumieren. 

Schon 1999 stellte das „Music Genome Project“ eine Art Grundstein für die KI in der Musikindustrie dar. Mithilfe einer mathematischen Analyse der Songs ermittelte das Programm einen Algorithmus, was Nutzer gerne hören. Schon in jenen Jahren wurde Musik auf ihre Eigenschaften hin gefiltert, wie zum Beispiel den Grad der Verzerrung einer elektrischen Gitarre. Was früher bei „Hound Dog“, „Angie“ oder „Thriller“ allenfalls an groben Atmosphären wie Überschwang, Melancholie oder Grusel festgemacht wurde und letztendlich doch wieder bei der Einmaligkeit von Elvis, Mick Jagger oder Michael Jackson hängenblieb, wirkt heute wie ein Puzzle mit unendlich vielen Mikroteilchen.

Die Prophezeiung: Die KI wird sehr gute Ergebnisse liefern können

Der Bassist und Musikproduzent Micki Meuser, Vorsitzender der Deutschen Filmkomponistenunion und Mitglied des Gema-Aufsichtsrats, arbeitet mit dem KI-Generator AIVA, von dem er sich vor allem inspirieren lassen möchte. „Ich gebe zum Beispiel 'Im Stil von Hans Zimmer' ein, Tempus, Instrumentierung und bekomme ein Ergebnis. Das klingt meistens langweilig, durchschnittlich, nur im Ansatz wie Hans Zimmer. Es fehlt das überraschende Menschliche.“ Das er hinzufügt und damit die „Komposition“ der KI verfeinert. Natürlich gehe es im Kern um generative Künstliche Intelligenz, betont Meuser, die ständig trainiert werden wolle und dadurch zwangsläufig besser werde. Im Augenblick stört ihn vor allem „die Durchschnittlichkeit, die KI mit sich bringt“. 

Sie versucht, stets im Mittel zu bleiben, und blendet interessante Randbereiche völlig aus. Natürlich ließe sich so etwas schlau umgehen, etwa mit einem entsprechenden Algorithmus. Eine derartige Entwicklung, so Meuser, komme wahrscheinlich früher, als die meisten denken, spätestens mit der Einführung von leistungsstarken Quantencomputern. „Dann wird die KI sehr gute künstliche Ergebnisse liefern, zum Beispiel für Film, Kommerz und Computerspiele“, lautet seine Prophezeiung.

Die Frage bleibt: Wer schützt Hans Zimmer und all die anderen, deren geistiges Eigentum immer dann als kompositorischer Rohstoff missbraucht wird, wenn ein Nutzer den Befehl „Im Stil von…“ eingibt? Konzerne wie Google oder OpenAI haben ihre KIs längst mit allem gefüttert, was von den berühmten menschlichen Vorbildern im Orbit herumschwebt. Weil es sich bei diesem „Scraping“ (eine Anwendung speichert Informationen von einer Website oder einem Online-Dienst) im Prinzip um Nutzung von Musik wie in einer TV-Sendung handelt, fordern die Rechteverwerter von den KI-Giganten Pauschalen in Milliardenhöhe. Micki Meuser: „Denn die Komponisten rund um den Globus wurden ja dann für alle Zeiten abgeschöpft.“

Eine Mehrheit der Musiker sieht die wirtschaftliche Grundlage gefährdet

Die Gema hat die Ergebnisse der weltweit ersten Studie über die Auswirkungen Künstlicher Intelligenz auf die Musik- und Kreativbranche veröffentlicht. Demnach befürchten 71 Prozent der 15.000 befragten Mitglieder, dass KI ihre wirtschaftliche Grundlage gefährden könnte. Schätzungen der Studie zufolge liegen die möglichen Einbußen, die Musikschaffende bis 2028 erleiden könnten, in Milliardenhöhe. „Ist das der Beginn eines Prozesses, bei dem es sich für Menschen nicht mehr lohnt, als normalen Brotberuf Musik zu machen und davon leben zu können?“, fragte Gema-Chef Tobias Holzmüller im Januar bei einer Pressekonferenz in Berlin – und erntete kollektives Achselzucken. 

Auch in den USA regt sich Widerstand: In dieser Woche haben sich mehr als 200 Künstlerinnen und Künstler in einem offenen Brief gegen den Missbrauch von KI in der Musikindustrie ausgesprochen. Zu den Unterzeichnenden zählen unter anderem Billie Eilish, Nicki Minaj, Stevie Wonder, Peter Frampton, Katy Perry, Smokey Robinson, Jon Bon Jovi, Pearl Jam und R.E.M.

Derzeit drehen die meisten Musikschaffenden die KI wie die Büchse der Pandora mit dieser toxischen Mischung aus Neugier und Endzeitstimmung in ihren Händen. Denn KI-Modelle können Dinge, die man sich Anfang des 20. Jahrhunderts nicht ausmalen konnte: komplette Arbeitsschritte übernehmen, Songtexte schreiben, alte Aufnahmen der Beatles retten, Werke wie Schuberts „Unvollendete“ und Beethovens Skizzen zu einer „X. Symphonie“ vollenden oder etwa Drake Songs rappen lassen, die er nie gesungen hat. Dem Tempo, in dem sich die KI-Technik fast wöchentlich weiterentwickelt, kann kaum jemand folgen. Im gleichen Maß wirft sie immer drängendere Fragen auf. Denn wer weiß schon genau, ob die Musik, die wir tagtäglich im Radio hören, nicht längst mithilfe von KI-Modellen produziert wird?

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Bassisten
Computerspiele
Google
Hans Zimmer
Jon Bon Jovi
Katy Perry
Ludwig van Beethoven
Michael Jackson
Mick Jagger
Pearl Jam
Peter Frampton
R.E.M.
Smokey Robinson
Software
Songs
Stevie Wonder
The Beatles
Wirtschaftsbranche Musik
Wolfgang Amadeus Mozart
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen