Nichts, gar nichts hat die Metropole Wien dagegen, wenn sie innerorts und auswärts als "Musikweltstadt" gerühmt wird. Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, Bruckner, Mahler, Schönberg, Korngold, Krenek, das sind die fettesten Hausmarken. Und es stimmt ja auch: Die Komponisten der ersten und der zweiten Wiener Schule haben die europäische und außereuropäische Entwicklung der Musikgeschichte geradezu bestimmt. Ganz Österreich beruft sich darauf als eine "Kulturnation".
Wie damit in Einklang zu bringen ist, dass jetzt Österreichs einziges Rundfunkorchester, das Radio-Symphonieorchester Wien, zur Disposition gestellt wird, also seine Abschaffung im Gespräch ist? Der Generaldirektor des Österreichischen Rundfunks (ORF), Roland Weißmann, hat genau dies getan, nachdem er seitens der österreichischen Bundesregierung aufgefordert worden war, für die kommenden drei Jahre Einsparmaßnahmen in Höhe von 300 Millionen Euro vorzuschlagen. Weißmann Ende Februar: Es sei klar, dass der ORFsein Orchester mit Stand heute nicht finanzieren könne. 8,5 Millionen Euro wäre die Einsparsumme.
Tom Buhrow stellte in Deutschland die 16 deutschen Rundfunkorchester infrage
Da horcht mancher auf. Bissige, scharfe, wütende Stimmen ertönen in Österreich. Und im angrenzenden Deutschland erinnert man sich nicht nur an das Ende 2022 öffentlich verbreitete Gedankenspiel des Intendanten vom Westdeutschen Rundfunk, Tom Buhrow, der im Zusammenhang mit Reformen bei den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten die 16 deutschen Rundfunkorchester infrage stellte: Ob nicht für Deutschland auch ein einziges Sinfonieorchester, dazu ein Funkorchester (für gehobene Unterhaltungsmusik), eine Bigband reiche? Tabus, Denkverbote dürfe es nicht geben.
Aber bleiben wir zunächst in Österreich. Scharfe, bissige, wütende Reaktionen waren die Folge auf Weißmanns Sparvorschläge, die auch einen ORF-Sportkanal umfassen. Literatur-Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek etwa schrieb unverhohlen giftig: "Das wäre wirklich eine Kulturschande für eine Nation, die sich auf Kultur beruft, als wäre ihr zweiter Vorname: Kulturnation! Und wollen ein Orchester einfach wegrationalisieren, das auch neue Musik spielt und außerdem einen weiblichen Chef hat. Ausradieren die blöden Instrumente. Wir wissen besser, welche Instrumente wir brauchen, das ist ihr Leitspruch... Wir haben das Instrument der Korruption, das Instrument der Vetternwirtschaft..., das Instrument der fetten Sparprogramme...“
Das Wiener Radio-Symphonieorchester steht für die Musik der klassischen Moderne
Und während Markus Hinterhäuser, Intendant der Salzburger Festspiele, den Vorschlag umreißt als "Nachweis gedanklicher Bescheidenheit, den man nur als Tiefpunkt bezeichnen kann", erklärt der international renommierte Pianist Rudolf Buchbinder: "Man muss sich dafür weltweit schämen."
Dazu muss man wissen: Das Radio-Symphonieorchester Wien, dessen Chefdirigentin Marin Alsop ist, steht speziell für die Musik der Klassischen Moderne und der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart. Also Arnold Schönberg bis Olga Neuwirth. Mit rund 300 in Auftrag gegebenen und uraufgeführten Kompositionen darf es als ein Advokat der jüngeren Musikgeschichte gehört werden – mit Verpflichtungen überdies im Wiener Theater an der Wien, beim Festival Wien modern, traditionell bei den Salzburger Festspielen, zuletzt auch bei den Londoner BBCProms. Und ein wesentlicher Auftrag des Ensembles mit 90 Instrumentalisten ist auch die Musikvermittlung.
Da erstaunt es dann allerdings, dass das ORF-hauseigene Orchester durchschnittlich keine zehn Stunden pro Jahr im Fernsehen zu sehen und durchschnittlich keine 100 Stunden im Jahr im Radio zu hören ist. Der ORFmit dem allseits beschworenen Bildungsauftrag kann eine "Produktionsgesellschaft" sein Eigen nennen, spielt diesen Trumpf mit alten und neuen Aufnahmen aber nur unzureichend aus. Auf solchem Weg wird ein Orchester erst randständig, dann ein Dispositionskandidat. Wer aber würde in Österreich die Aufgaben des Radio-Symphonieorchesters im Falle einer Auflösung übernehmen? Die Wiener Philharmoniker, österreichische Botschafter vor allem der Wiener Klassik und der Romantik, sicherlich nicht. Am 23. März wird über die Causa weiter verhandelt.
Der gegenwärtige Reform- und Spardruck verheißt weiteren Abbau
Gegenüber den österreichischen Gedankenspielen nimmt sich der deutsche Ist-Zustand der 16 Radioorchester wie ein musikalisches Elysium aus – übrigens auch im weltweiten Vergleich. Deutschland– Österreich: 16:1 ! Würde jedoch Tom Buhrows oben umrissenen Denkvorgaben gefolgt werden, stünde es schnell ganz anders um das Verhältnis. Und die langjährige Entwicklung der Radioorchester-Landschaft – verbunden mit dem gegenwärtigen Reform- und Spardruck bei den ARD-Anstalten – verheißt weiteren Abbau. So manche Orchester wurden infolge der Wende bereits fusioniert (Kaiserslautern/Saarbrücken; Stuttgart/Freiburg–Baden-Baden), auch Auflösungen gab es (Rundfunk-Tanzorchester Leipzig) und erhebliche Größenreduzierungen (RundfunkorchesterMünchen, das 2009 kurz vor der Auflösung stand). Zusätzliche ARD-Sparmaßnahmen sind abzusehen, und immer dürften dabei auch die Orchester unter die Lupe genommen werden. Die Orchester, die einerseits repräsentative Außenwirkung entfalten sollen, andererseits die Schallarchive der Rundfunkanstalten zu bestücken haben.
In diesem Stadium hat Buhrow zu einem Generalangriff geblasen. Was er wohlweislich dabei unterließ: Ross und Reiter zu nennen. Wenn er ein „Best-of“ der Ensembles ins Spiel bringt, wen wohl möchte er erhalten, wen eliminieren? Sollen die Musiker der NDR-Elbphilharmonie ausgestellt werden, dazu die Berliner Rundfunkorchester und auch an seinem eigenen Intendantenplatz Köln die Instrumentalisten des WDR-Sinfonieorchesters? Um dann allein dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, diesem deutschen Spitzenklangkörper, Zukunft zuzubilligen? Und möchte er die 1946 gegründete WDR-Bigband drangeben, weil die ebenfalls 1946 gegründete Bigband des Hessischen Rundfunks in Frankfurt mit ausgewiesen längerer Jazz-Tradition stationiert ist?
Das wird ein Hauen und Stechen geben in der kulturföderalistischen Republik. Es sei denn, die Intendanten landauf, landab würden künftig auf eines pfeifen: Dass im Sendeauftrag laut novelliertem Staatsvertrag sowohl der Kultur als auch der Bildung mehr Gewicht zu geben ist. Das wäre doch vielmehr ein Grund für den gesteigerten Einsatz und die gesteigerte Präsenz der Orchester in Fernsehen und Radio.