„Du suachst bestimmt an Abdullah?“, fragt der Wirt vom Gasthaus Hirzinger im breitesten oberbayerischen Dialekt. Woran erkennt man das? Die Antwort schiebt er gleich hinterher: „Der sitzt do hint'n im Kammerl, letzte Diar links!“ Auf dem Weg dorthin geht es vorbei am großen Saal, in dem der Bayerische Rundfunk regelmäßig die Serie „Wirtshausmusikanten“ aufzeichnet. Tatsächlich lädt auch „da Abdullah“ immer wieder zu Solo-Konzerten in das Traditionsgasthaus in Söllhuben im Landkreis Rosenheim ein, mindestens einmal pro Jahr, wenn wieder ein Geburtstag ansteht. Anfang Oktober war es der 89., die Planungen gehen bereits in Richtung seines 90.
Aber warum ausgerechnet das Chiemgau, wo er seit 2012 im zehn Autominuten entfernten Aschau zusammen mit der italienischen Kinderorthopädin Marina Umari lebt? Ibrahim geht bei der Frage gleich aufs Ganze: „Ich habe bei meinen Lehrern in Südafrika gelernt, die Natur, die Berge, die Tiere und die Menschen zu lieben, ihre Bedeutung und wie alles zusammenhängt. Vieles davon ist durch die industrielle Revolution teilweise vollkommen zerstört worden. Nun müssen wir alles daransetzen, die Basis für die weitere Existenz der Menschheit wieder herzustellen.“
Abdullah Ibrahim erzählt von seiner Jugend in Südafrika
Bevor man das verarbeiten kann, baut er Brücken, erzählt von seiner Jugend in Südafrika, den unwürdigen Lebensumständen im Apartheid-System, in dem man nie die Chance bekommen habe, in einer Umgebung wie dieser hier zu leben. Der Pianist zeigt durch das Fenster auf die Pfarrkirche St. Rupert und Martin, die auf der anderen Straßenseite liegt: ein Ort der Ruhe und Besinnung, perfekt, um zu sich zu finden. Nicht nur deswegen komme er nach Konzertreisen rund um den Globus, in denen er rastlos seine Botschaft von Frieden und Gleichheit unter die Leute bringt, gerne hierher zurück. „Ich bin mit den Bergen aufgewachsen. Jetzt sind die Berge hier meine Heimat.“ Die Volksmusikgruppen, die im Hirzinger auftreten, die Jungen, die zu ihren Wurzeln zurückfinden: Das sei in der Kalahari-Wüste auch nicht anders.
Wer mit Abdullah Ibrahim spricht, sollte eines seiner Solo-Konzerte, die mal 75, mal 90 Minuten dauern, besucht haben. Dann weiß man, wie der Hase läuft. Die Hauptperson kommt gemessenen Schrittes auf die Bühne, setzt sich an den Flügel und beginnt zu spielen. Den Fluss seiner Ideen unterbricht von da an niemand mehr. Stücke wie seine Anti-Apartheid-Hymne „Mannenberg“, benannt nach einem der ersten Townships für zwangsumgesiedelte Schwarze, oder „Blue Bolero“ muss man selber erkennen. So war es bei seinen jüngsten Gastspielen in Montpellier und in Bordeaux. So läuft es im Gespräch.
Der Südafrikaner hat Jazzgeschichte geschrieben
Dass der große Südafrikaner Jazzgeschichte geschrieben hat, obwohl er selbst das Wort „Jazz“ ungern verwendet („Ich ziehe Human Activity vor, weil man da auf Gegebenheiten reagieren kann, anstatt einen Ablauf fehlerfrei zu reproduzieren“) und dabei derjenige wurde, der seinen unterdrückten Landsleuten eine unüberhörbare Stimme verlieh, lässt der Pianist in jedem Satz durchklingen. Bei seiner Geburt hieß er Adolph Johannes Brand. Zu gerne hätte man gefragt, ob die Geschichte stimmt, dass amerikanische Seefahrer ihm einst den Spitznamen „Dollar“ verpassten, weil er als junger Mann ständig auf der Jagd nach Schallplatten mit amerikanischer Musik war, die man für einen Dollar kaufen konnte. Aber es wäre zwecklos, ihn zu unterbrechen. Er erzählt.
Von seiner geliebten Großmutter, die Klavier in der örtlichen Kirche spielte, von Kensington, einem der ärmsten Schwarzen-Ghettos Kapstadts, wo er aufwuchs, von seiner Band Jazz Epistels, dem südafrikanischen Gegenstück der Jazz Messengers, vom Sharpeville Massaker 1960, das ihn für lange Zeit aus Südafrika vertrieb. Zuerst ging Dollar Brand nach Zürich, wo ihn Duke Ellington 1963 entdeckte und förderte, dann nach New York. Sein Durchbruch. Dort traf er Stars wie Thelonious Monk, Coleman Hawkins, Max Roach, die neue Generation um John Coltrane, Cecil Taylor und Archie Shepp. Er lernte von ihnen – vor allem zu begreifen, wo seine Wurzeln lagen. „Ich weiß genau, was Monk bei seinen Stücken dachte. Ich weiß genau, was Duke Ellington dachte. Aber ich weiß nicht, was Bach dachte. Das passt organisch nicht zu mir.“
Abdullah Ibrahim erzählt, wie er zum Islam konvertierte
Ibrahim redet immer weiter, nur von kurzen Gedankenpausen unterbrochen. Wie er zum Islam konvertierte, seinen Namen änderte. Wie er 1994 bei der Amtseinführung seines Freundes Nelson Mandela spielen durfte, der ihn „unseren Mozart“ nannte. Ein Leben wie ein großer Berg, dessen Wegmarken mehr als 70 Tonträger darstellen. Die bislang letzte trägt den simplen Titel „3“ (Gearbox/Bertus) und entstand im vergangenen Juli in der Londoner Barbican Hall. Ein unkonventionelles und hoch demokratisches Trio-Album mit dem Flötisten und Saxofonisten Cleave Guyton Jr. sowie dem Bassisten und Cellisten Noah Jackson. Der erste Teil wurde vor dem Konzert ohne Publikum analog auf einer uralten 1"-Scully-Tapemachine aufgenommen, der zweite dokumentiert den eigentlichen Auftritt mit Arrangements, die von Gospel und Jive, amerikanischem Jazz sowie sakraler wie weltlicher Musik beeinflusst wurden, aber auch Erinnerungen an Ellington und Coltrane. Dazu singt er, über den Schmerz der Sklaverei in seiner Muttersprache wie auch auf Englisch. Berührend.
Im Februar will Abdullah Ibrahim zum ersten Mal nach vier Jahren Covid-Zwangspause wieder nach Südafrika zurückkehren, Konzerte geben, Menschen treffen und sein Herzensprojekt in der Kalahari vorantreiben, das er nach einem alten südafrikanischen Sprichwort „Every Child needs a Village“ nennt. Dafür hat der Weltbürger in der Nähe des Nordkaps eine 800 Hektar große Fläche gekauft. „Ich bin der Erste in unserer Familie, der eigenes Land besitzt“, sagt er mit einer Mischung aus Stolz und immer noch spürbarer Verwunderung. „Aber ich habe eines gelernt: Wenn man sich auf einen Ort festlegt, dann kann man nicht überleben.“