
Mittwochabend im ehemaligen Frauengefängnis in Berlin. Das imposante Gebäude, seit April 2022 als Luxus-Boutique-Hotel Wilmina in zeitgemäßer Pracht, ist Schauplatz eines Rituals. Immer, wenn Herbert Grönemeyer ein neues Album veröffentlicht, also alle vier, fünf Jahre, lädt er Medienmenschen in ein angesagtes Etablissement ein, um sein neues Werk und sich zu präsentieren. Das Album "Das ist los" hören die Journalistinnen und Journalisten zwischen dem Gruß aus der Küche und der Vorspeise. Irgendwann zwischen den Gängen bewegt sich Herbert Grönemeyer fast hüpfenden Schrittes an ein Tischchen, um Auskunft zu geben über seine neuen Lieder, die Weltlage, seine Befindlichkeit – was bei Deutschlands seit Jahrzehnten erfolgreichstem Musiker untrennbar miteinander vermengt ist.
Grönemeyer, in Schwarz gekleidet, wirkt glücksgeküsst. "Dass man Musik machen kann in diesen komplexen Zeiten", sagt der gebürtige Bochumer, zeitweilige Wahllondoner und heutige Wahlberliner, "das ist irre schön." Mit seinem Stammproduzenten Alex Silva habe er 2021 in einer zum Studio umgebauten Scheune in Umbrien mit der Arbeit begonnen. Anschließend setzte das Duo die Arbeit in Visby auf der schwedischen Insel Gotland fort. Dort habe er hautnah mitbekommen, wie das Unheil heraufzog und die Schweden Kriegsschiffe um die strategisch wichtige Ostseeinsel zusammenzogen. Kaum war Grönemeyer zurück in Berlin, überfiel Putin die Ukraine.
Inhaltlich macht sich Grönemeyer einen Reim auf das chaotische Weltgeschehen
Zwanzig Songs hat Grönemeyer betextet, einige, wie die berührende und beschwingt groovende Single "Deine Hand" zusammen mit der Singer-Songwriterin Balbina, auch der Liedermacher Max Leßmann hat lyrisch zugearbeitet. Inhaltlich ist "Das ist los" Grönemeyers Versuch, sich einen Reim auf das chaotische bis apokalyptisch anmutende Weltgeschehen zu machen. Und zwar, das ist seine große Kunst: Ohne zu jammern oder schwarzzumalen, aber auch ohne banale "Es wird alles wieder gut"-Attitüde. Herbert Grönemeyer ist Deutschlands oberster Mutbürger. Alles an "Das ist los" schleudert Zuversicht in ein oft etwas gereiztes und ratloses, aber auch mit einer robusten Lust an Neustart und Eskalation ausgestattetes Millionenpublikum.
Als Benenner allgemeingültiger Sorgen, Zweifel und Hoffnungen ist Grönemeyer unübertroffen. Auch er sehe die Dinge keineswegs rosarot, so Grönemeyer. "Aber gleichzeitig geht es darum, dass man die Aspekte bei sich selbst und in der Gesellschaft sucht, die stark sind und an denen man sich selber aufrichten kann." Je krisenbehafteter eine Zeit sei, "desto mehr versuchst du, die Dinge rauszukramen, die dir Mut machen und die dich positiv stimmen."
"Urverlust" thematisiert Grönemeyers lebenslange Trauer
Das ist nicht zuletzt die Liebe. In "Behutsam", einer an Udo Jürgens erinnernden Ballade, singt er allem Anschein nach über sein spätes Vaterglück. "Froh, wenn dein Wort klingt/ Froh, wenn dein Herz springt/ Heldinnen werden vom Glück bewacht". 2019 brachte Grönemeyers zweite Ehefrau Josefine Cox das gemeinsame Kind zur Welt. Aus erster Ehe mit der 1998 an Krebs verstorbenen Anna Henkel-Grönemeyer hat er die zwei inzwischen Mittdreißigerkinder Felix und Marie. Das mit einem Saxofon-Solo überraschende "Urverlust" scheint einmal mehr nach Epochensongs wie "Mensch" oder "Der Weg" seine lebenslange Trauer zu thematisieren. Während "Tau" eine Ode an Josefine zu sein scheint.
Auch mit politisch-gesellschaftlichen Stellungnahmen knausert er nicht. So ist "Der Schlüssel" ein großes Stück Erbauungspop, in dem es um das Schicksal vertriebener und flüchtender Menschen geht. Grönemeyer: "Mich hat immer positiv gestimmt, wie die Menschen 2015 in den Bahnhöfen den Geflüchteten entgegengegangen sind. Das ist für mich eines der einprägsamsten Bilder gewesen, die ich in meinem Leben gesehen habe. Das hat nicht nachgelassen, auch jetzt mit den Menschen aus der Ukraine." Das zeige ihm, "dass die Gesellschaft ganz andere humanistische Elemente in sich trägt, als wir gemeinhin immer denken".
Musikalisch ruckelt es aber auch auf dem neuen Album
Das flotte "Oh Oh Oh" ist Grönemeyers Kommentar zur Klimakrise. "Muss die Welt erst in Flammen stehen/ dass wir uns aus unserem Koma drehen/ Wichtig ist, alle sind oh oh oh dabei/ rüber in die neue Zeit/ Es braucht den nimmermüden oh oh oh Aufschrei." Er engagiert sich, er reibt sich, ihm liegt die Zukunft am Herzen.
Musikalisch ruckelt es auf "Das ist los" hier und da ein bisschen. Während die Balladen so balladesk und angenehm warm angeknödelt sind wie eh und je, gibt es in den schnelleren Stücken mehr Beats und elektronische Spielereien als früher, "Eleganz" kann man schon fast als "clubtauglich" bezeichnen. Auf die Spitze getrieben wird der musikalische Wirrsinn im Titelsong "Das ist los". Die Aneinanderreihungen von vermeintlichen Aufreger-Themen wirken wahllos. "Bankenkrise, Emirat/ Schuldenbremse, Windradpark/ Lifehacks, Burnout, Horoskop/ Cis, binär und transqueerphob/ Gucci, Prada, Taliban, Schufa, Tesla, Taiwanwahn/ Was ist, Kid, kriegst du noch was mit".
Der lauteste Aufruf zu Optimismus und außerdem der musikalisch mitreißendste Song heißt "Angstfrei (In der Unruhe liegt die Kraft)". Hier kritisiert der Künstler subtil die Bundesregierung ("Wer nicht strampelt/ Klebt an der Ampel"). Er singt die herrliche Zeile: "Fesch sein/ Frech sein/ Keiner kriegt uns jetzt klein". Das Erreichen des gesetzlichen Rentenalters hält den Bundesherbert mitnichten davon ab, gegen das Zaudern und Verzagen anzusingen und für den Aufbruch und den Tanz zu trommeln. Auch wenn ein Herbert Grönemeyer in "Das ist los"-Bestform nicht im Alleingang die Welt retten wird, sein Album trägt dazu bei, dass wir alle ein bisschen mehr Lust auf die Zukunft bekommen.