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Literatur
Michael Köhlmeiers Bestseller "Das Philosophenschiff": Eine Geschichte, so unglaublich, dass sie wahr sein muss
Der Vorarlberger Schriftsteller Michael Köhlmeier erzählt von einer unglaublichen Begegnung zwischen einem jungen Mädchen und Lenin – und von sich als Autor mit gutem, aber etwas „windigem“ Ruf.
Stefanie Wirsching
 |  aktualisiert: 24.03.2024 02:42 Uhr

Ein Gedankenspiel. Stellen Sie sich vor, Sie haben etwas Unglaubliches erlebt. Niemand weiß davon, keiner würde Ihnen glauben, nein wirklich, das kann doch nicht sein. Sie aber würden gerne einmal davon sprechen, die Geschichte in die Welt lassen. Wem würden Sie das Erlebte erzählen? Am besten doch einem, dem man nicht alles glaubt, nicht alles jedenfalls glauben darf, der Geschichten erfindet, einem Schriftsteller also. Bei dem sich die unglaubliche Geschichte in einem Roman verstecken könnte … 

Zum Beispiel Michael Köhlmeier, 74, Schriftsteller aus dem Vorarlberg, der in seinem eben erschienenen Roman „Das Philosophenschiff“ eine solche Geschichte erzählt beziehungsweise über einen Schriftsteller aus dem Vorarlberg schreibt, dem eine solche erzählt wird. „Sie haben einen guten Ruf als Schriftsteller, aber auch einen etwas windigen“, bemerkt die Protagonistin, die 100 Jahre alte Stararchitektin Anouk Perleman-Jakob, beim zweiten Zusammentreffen. Wie sie gehört habe, erfinde er oft Dinge, behaupte, sie seien wahr, deswegen seien sich seine Leserinnen und Leser ja auch nie sicher, was nun stimmt und was nicht. Genau einen wie ihn aber suche sie für ihre Geschichte: „Ein Schriftsteller, dem man nicht glaubt, was er schreibt.“ Abends telefoniert der Schriftsteller mit seiner Frau Monika, erzählt von der Offerte, die ist empört! 

Ehefrau Monika ist von der Offerte empört

Wunderbar, oder? Weil Michael Köhlmeier, verheiratet mit Monika Helfer, der zuletzt auch mal einen wortgewaltigen Kater von der Weltgeschichte erzählen ließ, weil er da, auf Seite 11, seine Leser natürlich schon hat, gepackt bei der Neugier: eine Geschichte, die so unglaublich ist, dass sie am Ende wahr sein muss, was muss, was darf man da erwarten? Nichts anderes als einen großartigen Köhlmeier-Roman, in dem er wieder mit feinem Humor, verpackt ganz simpel in ein Gespräch zwischen zwei Menschen, vom Ernsten, ach was, vom Ernstesten erzählt: Liebe, Hunger, Vertreibung, Terror, Verrat, Tod. Die Geschichte von Anouk Perleman-Jakob, geboren 1908 in Sankt Petersburg, als 14-Jährige wird sie mit ihren Eltern per Schiff aus Russland hinausgeworfen. Die Geschichte mit dem Schiff ist übrigens wahr, es gab sie, diese Philosophenschiffe, auf denen das blutjunge Sowjetrussland unliebsame Intellektuelle übers Meer in die Ferne verwies. Leo Trotzki schrieb: „Wir haben diese Leute ausgewiesen, da es keinen Anlass gab, sie zu erschießen, aber sie noch länger zu ertragen, war unmöglich.“ 

52 Jahre, aber der einsame Mann auf dem Sonnendeck ist ein Wrack

Der Befehl für die Ausweisungen kam direkt von Lenin. Dem aber begegnet die junge Anouk in ihrer Erzählung auf eben jenem Schiff, sie als unfreiwillige Reisende in der dritten Klasse, wo mit ihr die kleine Gruppe der Verbannten wie gelähmt der Dinge harrt, nicht wissend, wohin diese Reise führen wird – ins Exil, in den Tod? Für ihre Eltern ist das eine das andere. Er als einsamer Passagier im Rollstuhl auf dem Oberdeck, gezeichnet von mehreren Schlaganfällen. 52 Jahre alt, aber ein Wrack. Worüber die beiden sprechen? Über Revolution, Bauern, Macht und über Liebe. Ein irrlichterndes Gespräch, in dem der Revolutionär ein letztes Mal zum großen Wort ausholt: „Einer zerstört ein ganzes Land, richtet Millionen Menschen zugrunde, lässt Millionen umbringen, schafft eine neue Gesellschaft – man denkt, solche Männer handeln aus ebenso großen Motiven, weltumfassenden Motiven, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Friede, Ordnung, Ruhe. Und dann stellt sich heraus, es ist gar nicht so. Er ist gekränkt worden, persönlich gekränkt. Wie die Millionen, die er ins Unglück stürzt, auch irgendwann einmal gekränkt worden sind. Weil ihnen einer die Frau ausgespannt hat, weil ihm ein anderer in der Arbeit vorgezogen wurde, weil ihnen einer ins Gesicht gesagt hat, was für arme Würstchen sie sind. Der eine haut auf den Tisch, beißt sich in die Faust, schreibt einen Leserbrief – der andere zündet die ganze Welt an.“ 

Zwei Versionen einer Geschichte, eine ist besser zu ertragen

Findet die Begegnung statt oder nicht? Auch Lenin – gefangen auf dem Sonnendeck – ist sich nicht sicher! Dass auch auf die resolute Geschichtenerzählerin Anouk Perleman-Jakob, die den Schriftsteller in ihrer Wiener Villa empfängt, kein Verlass ist, schwant dem Schriftsteller recht bald. Sie schummelt, erzählt die Geschichte erst so, dann so. Eine nicht ganz so schwer zu ertragende harmlose erste Version, eine zweite, ungeschönte, brutale Version später, die mehr Kraft kostet, die vom Entsetzen handelt zu erzählen. Zwischendurch braucht sie Schlaf. Gelegentlich kocht er für beide. Es gibt da noch eine amerikanische Freundin, einst in einen Anschlag der linksradikalen Untergrundorganisation „Weathermen“ verwickelt. Alles etwas seltsam. Der Autor wiederum meldet sich bei seinem einstigen Studienfreund Carlo, der als junger Mann für zwei Jahre Mitglied beim „Kommunistischen Bund“ gewesen war und von seiner Genossin Gerlinde nach seinem Austritt auf Befehl eines Führungsoffiziers „liquidiert“ werden sollte. Mittlerweile sei man befreundet, erzählt ihm Carlo, also er und die Gerlinde. War ja alles doch nicht so gemeint. Und so erzählt dieser Roman höchst aktuell also auch nicht nur von Vertreibung, Krieg und Terror, von der Jagd auf Intellektuelle, sondern auch länder- und zeitenüberspringend von politischer Radikalisierung. 

Was ist das aber für eine Kunst, eine solche Geschichte so spannend und so leicht zu erzählen? Den Rest möge er sich zusammenreimen, sagt Anouk Perleman-Jakob gegen Ende, aus dem, was sie erzählt hat. Und so verpackt der Schriftsteller das ganze Entsetzen in einen wahrhaften und wahrhaft guten Roman. 

Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff, 222 Seiten, 24 Euro.

 
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