Bruno, der brutale Bewohner einer Berliner Mietskaserne, kriecht als erster aus dem Boden der Bühne im Landestheater Memmingen. Später kommen andere Menschen der unterprivilegierten Klasse wie die Ratten von unten herauf auf die breite Bahn gekrochen, die die Bühne beherrscht. Die Rampe von Bühnenbildner Dirk Seesemann ist steil und gefährlich. Wer ausrutscht, droht in den Abgrund gezogen zu werden, in den die Gefallenen und Verarmten verschwinden. Selbst der geschäftstüchtige Theaterdirektor Harro Hassenreuter (Thorsten Hamer), der standesgemäß stets oben auf der Rampe auftritt, rutscht bei seinem ersten Erscheinen aus.
Auch der sozial besser Gestellte steht mit einem Fuß auf der schiefen Bahn, wenn er sich mit seiner Geliebten, der Schauspielerin Alice Rütterbusch (Josephine Bönsch) im obersten Stock des Hauses zum Stelldichein in seinem Kostümfundus verabredet. Doch letztendlich verliert er nie den Halt. Ganz anders Frau Jette John, die den Fundus verwaltet und die im Zentrum von Gerhard Hauptmanns Tragikomödie „Die Ratten“ steht. Sie nimmt das Kind eines ungewollt schwangeren Dienstmädchens (Almut Kohnle) an sich und gibt es als ihr eigenes aus. Regisseurin und Intendantin Christine Hofer setzt Frau Johns Geschichte mit der fulminanten Gastschauspielerin Lisa Flachmann aus Berlin und einem großartig aufspielenden Ensemble fesselnd in Szene.
Im Landestheater Memmingen ist die Inszenierung von "Die Ratten" frei von Belehrung
Intensiv und erschütternd verkörpert Lisa Flachmeyer eine Mutter, die ein Kind verloren hat und sich besessen an ein fremdes klammert. Fasziniert und bewegt schaut man ihren flirrenden Gemütsschwankungen zu, mit denen sie sich immer tiefer in Lüge und Täuschung verstrickt. Beeindruckend, wie sie sich zwischen aggressivem Mutterinstinkt und zärtlicher Fürsorge bewegt. Mit ihrem Bruder Bruno, der die echte Mutter schließlich ermordet, als sie ihr Kind zurückhaben möchte, ist sie das abgründige Paar im Stück. Lisa Flachmeyer und Tobias Loth verstehen jedoch zu zeigen, dass sich das Böse wie eine Krankheit in Menschen festsetzt. In all ihrer Schlechtigkeit bewahren sie immer noch eine Art Unschuld. Stück und Inszenierung sind frei von Anklage und Belehrung und damit reinster Naturalismus, wie er seinem Verfechter Gerhard Hauptmann vorschwebte.
Regisseurin Christine Hofer gibt den Schauspielern Raum für saftiges Theater und vielschichtige Entfaltung. Das Ensemble läuft in seltener Geschlossenheit zu Höchstform auf. Die Darsteller sprechen außergewöhnlich natürlich und ohne aufgesetzten Töne. Den im Stück vorgegeben Berliner Dialekt zu verwenden, ist mutig, da nur die Regisseurin und der Schauspieler Tobias Loth in Berlin geboren und aufgewachsen sind. Aber es funktioniert. Dank heutiger Kostüme von Inés Díaz Naufal und des Dialekts wirken sie wie aus dem Leben geschnitten.
Ein schönes Schlussbild für Gerhart Hauptmanns "Die Ratten"
Alle Rollen sind auf Punkt besetzt, sei es Thorsten Hamer als Theaterdirektor, sei es Michael Naroditski als Maurerpolier John und Tom Christopher Büning als Hausmeister. Sebastian Egger sorgt als dilettierender Schauspieler Erich Spitta für die meisten Lacher und überzeugt mit Flurina Carla Schlegel als Vertreter der jungen, aufmüpfigen Generation. Auch die doppelbesetzten Schauspielerinnen Josephine Bönsch und Levi Roberta Kuhr liefern feine Menschenstudien.
Christine Hofer findet in ihrer eindringlichen Inszenierung ein schönes Schlussbild. Während alle auf die tote Frau John starren, kriecht Frau Knoppe (Josephine Bönsch) unheilvoll zu dem verwaisten Kind. Wird die anrüchige Lebedame es als Ersatz für ihr zuvor verhungertes nehmen? Ist es auf dem Weg nach unten? Die Frage, wo das Kind einmal landen wird, bleibt offen. Minutenlanger Applaus für das Ensemble und begeisterte Bravos für Lisa Flachmeyer.
Weitere Termine am 31. Januar sowie am 17., 25. und 29. Februar im Landestheater Memmingen.