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Interview
Aktionskünstlerin Abramovic: "Vielleicht muss ich noch erwachsen werden"
Marina Abramovic ist berühmt dafür, sich selbst in ihrer Kunst nicht zu schonen. Im Gespräch verrät die 77-Jährige, was sie von politischer Korrektheit hält und wie sie mit Alter und Krankheit umgeht.
dpa_5FA24600D339EEA1.jpeg       -  HANDOUT - 01.09.2020, ---: Die Künstlerin Marina Abramovic im Gespräch in einer Szene aus dem Dokumentarfilm 'Body of Truth' (undatierte Filmszene). Der Film kommt am 10.09.2020 in die deutschen Kinos. (zu dpa-Kinostarts) Foto: Börres Weiffenbach/Filmwelt Verleihagentur GmbH/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit einer Berichterstattung über den Film und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits +++ dpa-Bildfunk +++
Foto: Börres Weiffenbach | HANDOUT - 01.09.2020, ---: Die Künstlerin Marina Abramovic im Gespräch in einer Szene aus dem Dokumentarfilm "Body of Truth" (undatierte Filmszene). Der Film kommt am 10.09.2020 in die deutschen Kinos.
Rüdiger Sturm
 |  aktualisiert: 24.03.2024 02:42 Uhr

Die Ihnen gewidmete Werkschau in Amsterdam ist die umfassendste Einzelausstellung Ihres Schaffens. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie die Präsentation Ihrer Performancekunst heute mit deren Erstaufführung vergleichen?

Marina Abramovic:: Mit all diesen Stücken verbinde ich natürlich viele Erinnerungen, zumal ich seit 30 Jahren in Amsterdam lebe, wo jedes Eck von Eindrücken aufgeladen ist. Aber als ich 1975 hierher kam, war das Gefühl von Freiheit überwältigend – vor allem im Vergleich zu Ex-Jugoslawien, wo es so viele Einschränkungen gab. Seither hat sich vieles verändert, verändert und nochmals verändert. Wir leben in einer Zeit der politischen Korrektheit, wo fast alles unmöglich scheint. Damals hat sich niemand einen feuchten Kehricht um Nacktheit geschert. Doch jetzt muss ich für die Retrospektive Kompromisse akzeptieren. Bei „Imponderabilia“, wo die Besucher zwischen zwei nackten Performern hindurchgehen, musste ein zweiter Eingang installiert werden. Die ursprüngliche Performance von „Luminosity“, bei der ich mit gespreizten Armen und Beinen auf einem in die Wand montierten Fahrradsattel saß, dauerte sechs Stunden. Hier ist für die Künstler nur eine halbe Stunde möglich. Diese Beschränkungen gab es auch schon bei der Retrospektive in der Royal Academy of Arts in London.

Das Stedelijk Museum verweist auf eine Hotline für psychische Gesundheit, an die sich die Besucher der Ausstellung wenden können. Was halten Sie davon?

Abramovic: Ich halte das für Blödsinn. Ich kann das absolut nicht nachvollziehen. Aber heutzutage wollen die Menschen in völliger Sicherheit leben. Alles, was gesagt wird, wird kritisch beäugt. Kinder dagegen verstehen meine Arbeiten. Die brauchen keinen Psychologen und sind ganz anders drauf als die ältere Generation.

Wird sich das wieder ändern?

Abramovic: Ich hoffe es sehr. Denn das alles ist unglaublich frustrierend und unnötig. Man kann ja keinen gesunden dreckigen Witz mehr erzählen. Ich hasse das. Humor ist so wichtig. Während des Kriegs in Ex-Jugoslawien war das die einzige Möglichkeit, um zu überleben. Und jetzt steckt die ganze Welt im Chaos. Wir brauchen Humor dringender denn je. Aber das ist nicht möglich, denn mit jedem freimütigen Statement kannst du deine Karriere gefährden.

Ihre Arbeiten werden ja von einem extremen Einsatz des Körpers definiert. Ihr eigener ließ Sie allerdings im Stich, denn 2023 landeten Sie mit einer Lungenembolie im Krankenhaus. Wie hat das Ihre Sicht aufs Leben beeinflusst?

Abramovic: Mein Leben ist sehr interessant geworden. Früher habe ich diese körperlichen Herausforderungen selbst mit meiner Willenskraft inszeniert und ich hatte die Kontrolle, wie weit ich gehen kann. Die Lungenembolie dagegen kam völlig unerwartet, und ich konnte nichts dagegen tun. Ich war sechs Wochen auf der Intensivstation, bekam neun Bluttransfusionen und wurde zweimal ins Koma versetzt. Danach konnte ich eine Zeitlang nicht richtig gehen. Aber ich habe dadurch einen Zustand wahren Glücks erreicht. Denn die Ärzte meinten, es sei ein Wunder, dass ich überlebt hätte. Das bedeutet: Die Zeit für mich war noch nicht gekommen. Und jetzt arbeite ich umso mehr denn je und ich genieße jede Minute, denn mir ist klar, wie wunderbar das Leben ist. Ich sage zu meinen Freunden: Depression ist ein Gefühl, dass du dir im Alter nicht leisten kannst.

Und physisch sind Sie jetzt wieder ganz fit?

Abramovic: Sehen Sie meinen Stock? Ich habe ein Knie, das ich mir ersetzen lassen muss (lacht).

Sie meinten einmal, dass Sie sich eines Tages in ein Kloster zurückziehen möchten. Wäre das angesichts der vertrackten Lage nicht der naheliegende Schritt?

Abramovic: Das würde ich nur dann tun, wenn ich so alt bin, dass ich nichts mehr machen kann. Ich möchte in Frieden in einem Kloster sterben. Aber noch bin ich weit davon entfernt, diesen Schritt zu tun. Nach dem ich letztes Jahr an der Grenze zum Tod stand, ist meine Haltung eher die: Ich will arbeiten, bis ich sterbe. Und ich will, wie ich schon sagte, jeden Tag voll Freude erleben. Das gelingt mir auch, wenn ich nicht zu viele Interviews geben muss (lacht).

War diese Lebensfreude in den 70ern, in denen Sie zum ersten Mal als Künstlerin hervortraten, auch schon so ausgeprägt?

Abramovic: Nein, denn damals war ich die ganze Zeit wütend. Es hat mich frustriert, dass meine Performances nicht zu sehen waren. Ich musste mich ständig beweisen und gegen negative Kritiken behaupten. Es gab nie genug Geld. Und jetzt habe ich einen ganz anderen Weg, um mit der Öffentlichkeit und allen neuen Herausforderungen klarzukommen. Das ist Weisheit des Alters!

Fühlen Sie sich denn schon alt?

Abramovic: Nein, das ist das Problem. Wenn ich aufstehe, habe ich Schmerzen im Knie und kann nicht richtig gehen. Aber gleichzeitig habe ich die Neugier eines Kinds, das am Morgen erwacht und sich denkt: Oh mein Gott, da erwartet mich eine ganz neue Welt. In dieser Hinsicht bin ich sehr kindisch. Vielleicht muss ich noch erwachsen werden.

Mittlerweile wird immer mehr über eine extreme Lebensverlängerung und mögliche Unsterblichkeit gesprochen. Hätte das einen Reiz für Sie?

Abramovic: Ich weiß, es gibt diese Milliardäre, die mit neuer Technologie 250 Jahre alt werden wollen. Aber das wäre mir zu kompliziert. Ich finde es wunderbar, wenn man versteht, wann die Zeit abgelaufen ist und man friedlich gehen soll. Ohne Zorn, ohne Ängste.

 
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