Er ist sein Leben lang an seinem Jugendwerk gemessen worden: So scheint er später davon gesprochen zu haben, wenn er mit 24 Jahren gestorben wäre, hätte er eine "runde Biographie" gehabt. Der Wiener Dichter Hugo von Hofmannsthal, dessen Geburtstag sich am 1. Februar zum 150. Mal jährt, publizierte schon mit 16 Jahren Gedichte, erzwungenermaßen als Schüler unter fremdem Namen. Er war somit der junge Star einer Gruppe von Autoren, die als "Das Junge Wien" Geschichte schreiben sollte, und seine frühen Essays und lyrischen Dramen (weil sie ohne viel Handlung auszukommen suchen) sorgten für enorme Aufmerksamkeit. Gedichte wie "Terzinen über Vergänglichkeit" oder "Ballade des äußeren Lebens" haben von ihrem magischen Tonfall nichts verloren.
Heute freilich ist er vor allem noch als Autor des "Jedermann" im allgemeinen Bewusstsein, jenes von ihm eingerichteten "Spiels vom Sterben des reichen Mannes", das seit 1920 jährlich auf dem Salzburger Domplatz gespielt wird. Und dann sind es weiterhin die Opern aus seiner Zusammenarbeit mit Richard Strauss, die nach wie vor die Spielpläne zwischen London und Tokio, Wien und New York füllen. Aber Hofmannsthal kann nicht einfach als ein "Klassiker der Moderne" verabschiedet werden: Der "Jedermann" ist weit mehr als nur die Wiederbelebung eines mittelenglischen Moralitätenstückes, – vielmehr ist ihm eine gründliche Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Soziologie eingeschrieben: Hofmannsthal hat sich intensiv mit Georg Simmels "Philosophie des Geldes" beschäftigt, die kurz zuvor erschienen war. Hofmannsthals Werk ist somit am ehesten als ein Protokoll, als Widerspiegelung moderner Fragestellungen zu beschreiben. "Was wir besitzen sollten, das besitzt uns, und was das Mittel aller Mittel ist, das Geld, wird uns in dämonischer Verkehrtheit zum Zweck der Zwecke", so resümiert der Dichter, und wer wollte das für überholt halten wollen?
Hofmannsthals "Elektra" kann als ein Meilenstein der Moderne gelten
Entsprechendes gilt auch für seine Opernlibretti. Während vor allem "Der Rosenkavalier" in den Verdacht kam, ein kulinarisches Kunstverständnis (wie es Brecht kritisiert hat) zu bedienen, kann gerade das erste Werk der Kooperation von Dichter und Komponist, "Elektra", 1909 uraufgeführt, als ein Meilenstein der Moderne gelten. Schon in der dem Libretto zugrunde liegenden Dramenfassung (uraufgeführt am Theater Max Reinhardts, ein Welterfolg) hatte Hofmannsthal den Stoff aus dem antiken Mythos äußerst kühn in die Gegenwart geöffnet. Er hat nicht nur, wie andere Autoren seiner Zeit, Nietzsches dionysisches Griechenbild umgesetzt, sondern seine Elektra, die den gewaltsamen Tod ihres Vaters Agamemnon rächen will, wird zu einer faszinierenden Figur, indem Hofmannsthal Erkenntnisse aus den "Studien über Hysterie" von Sigmund Freud und Josef Breuer aufgegriffen hat. Er erweist sich somit als ein Autor auf der Höhe seiner Zeit, gelesen und wertgeschätzt von Arthur Schnitzler, Franz Kafka und Thomas Mann.
Und man kann leicht ein weiteres Beispiel aufrufen, um seine Bedeutung zu würdigen. Er gehört sicher zu den belesensten Schriftstellern seiner Zeit, schon als Jugendlicher waren ihm die Literaturen der Antike und der anderen europäischen Länder im Original bekannt, weshalb seine eigenen Texte oftmals auf Anregungen anderer reagieren, im Fall der "Elektra" ist es das Stück von Sophokles, beim "Jedermann" eine englische Vorlage. Aber mitunter entwirft er aus solchen Impulsen auch eine faszinierende neue Welt, so geschehen im Fall des "Lord Chandos".
Hofmannsthal entwickelte Worte und Bilder fürs Stammbuch der Moderne
Dabei handelt es sich um eine erfundene Figur, die Hofmannsthal in das Umfeld des Elisabethanischen Zeitalters versetzt, datiert auf 1603, um sie gleichsam aus der historischen Entfernung eine ganz aktuelle wie beunruhigende Erfahrung formulieren zu lassen. Lord Chandos schreibt seinen berühmten "Brief" an Lord Bacon, den Philosophen, um ihm zu erläutern, weshalb er künftig seine durchaus anerkannte dichterische Produktion einstellen wird. Dazu lässt ihn Hofmannsthal berühmte Worte und Bilder entwickeln, die seither (1902) ins Stammbuch der modernen und postmodernen Literatur gehören: "Die Worte", schreibt er, "zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze", "Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen." Der Brief des Lord Chandos ist zum Gründungsdokument der modernen Sprachkritik geworden, an der Fritz Mauthner oder Ludwig Wittgenstein beteiligt waren. Im Jubiläumsjahr dieses Textes, 2002, haben Autorinnen und Autoren von Aichinger bis Zaimoglu, Durs Grünbein, Georg Klein, Friederike Mayröcker, aber auch Robert Habeck, zeitgenössische Antworten an Chandos verfasst.
Dennoch ist es stiller um Hofmannsthal geworden. Erst auf den zweiten Blick, hinter den Kulissen der Opernspielpläne und des Salzburger Domplatzes kann deutlich werden, dass es sich hier um einen höchst originellen, nervös aufgeschlossenen Beobachter seiner Zeit gehandelt hat, der über ein großartiges Spektrum der Formen verfügt hat, von der Novelle bis zum Ballett, vom Aphorismus bis zum Roman. Noch zwei Tage vor seinem Tod – er starb, 55-jährig, beim Aufbruch zur Beerdigung seines Sohnes, der freiwillig aus dem Leben geschieden war – arbeitete er an einem gänzlich neuen Format, einer Art Revue oder Sprechoperette, mit dem Titel "Das Hotel". Hierin sollten Spuren aus der Psychoanalyse, der Proustlektüre mit Anregungen aus der "Dreigroschenoper" und dem Jazz zusammengeführt werden, – ein letztes Beispiel für die immense Aufgeschlossenheit dieses Autors.
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Prof. Mathias Mayer ist Lehrstuhlinhaber für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg. Zu seinen Forschungsgebieten gehört auch die österreichische Literatur und die klassische Moderne.