Wie beschreibt man das Ideal vollkommener Gelassenheit und innerer Ruhe? Dem Gelehrten und Aufklärer Johann Joachim Winckelmann kam als Vergleichsgröße das Meer in den Sinn. So wie dieses in der Tiefe „allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten“, so zeigen die Skulpturen der antiken griechischen Bildhauer „bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele“.
Das Meer als Metapher für Ruhe und Größe: Winckelmann war mit dieser Assoziation nicht allein. Der Journalist Volker Weidermann hat sich die Werke Thomas Manns noch einmal vorgenommen. Dabei interessierte ihn vor allem eines: die Bedeutung des Meeres. In einem Buch stellt er nun die Ergebnisse seiner Lektüre vor.
Es finden sich immer wieder Bezüge zum Meer
Auf den ersten Blick mag das Vorhaben verwundern. Das Meer ist ein beliebtes Thema der Weltliteratur, man denkt an Herman Melville oder Robert Louis Stevenson, natürlich auch Ernest Hemingway. Aber Thomas Mann?
Tatsächlich finden sich immer wieder Bezüge. Anders als die großen Poeten des Ozeans aber beschränkt sich der Autor der „Buddenbrooks“ meist auf die Beobachterrolle. Seine Protagonisten verweilen am Strand und lassen den Blick über den Horizont schweifen. Das gilt zum Beispiel für Hanno Buddenbrook, den jüngsten Spross der Kaufmannsfamilie, Problemkind mit schlechten Schulnoten, Neigung zu Albträumen und prekärer Gesundheit. Am Meer aber, wo er diesen „angenehmen Schwindel“ und eine „gedämpfte Betäubung spürt“, weil das „Bewusstsein von Zeit und Raum und allem Begrenzten still selig untergeht“: Da geht es ihm ganz ausgezeichnet. „In ungeheurer Zufriedenheit“ schließt er die Augen, möchte sie am liebsten nie mehr öffnen. Und als das Kindermädchen ihn ermahnt, endlich zum Abendbrot ins Ferienhaus zurückzukehren, er werde sich sonst noch „den Tod holen“, da lässt sich erahnen: Genau das erhofft sich der junge Strandbesucher.
Das Meer ist bei Thomas Mann nicht nur eine tödliche Gewalt
Später wird Thomas Mann einen erwachsenen Mann tatsächlich am Strand sterben lassen. Gustav Aschenbach träumt sich in seinem Liegestuhl in eine unmögliche Liebe hinein: Seine Fantasie gilt dem jungen Tadzio, der ahnungslos am Strand umherstreift, den fremden Beobachter offenbar gar nicht bemerkend. Hat sein Verehrer gar nicht gemerkt, dass er sich längst mit der tödlichen Cholera infizierte? Ahnt er den nahenden Tod überhaupt?
Das Meer ist nicht nur eine potenziell tödliche Gewalt, sondern auch eine befreiende. Thomas Mann hat diese Ambivalenz am Beispiel seiner eigenen Mutter erfahren. Geboren und aufgewachsen in Brasilien als Tochter eines ausgewanderten deutschen Landwirts wurde sie in jungen Jahren über den Ozean ins kalte Lübeck geschickt. Das Meer war für sie eine Nabelschnur zum Ort ihrer unbeschwerten Kindheit: fernab der Verstellungen und Verrenkungen, wie sie von ihr in der steifen hanseatischen Gesellschaft täglich verlangt wurden. Am Meer kommt der Mensch zu sich selbst, in seinem Abgrund kann er das falsche Leben der Großstädte fahren lassen.
Sogar die Meerjungfrau taucht auf
Auf der einen Seite also der Tod und die Freiheit, auf der anderen Seite das falsche, von Konventionen gefesselte Leben: Man könnte diese Gegenüberstellung von Meer und Stadt als eine Überinterpretation halten, gäbe es nicht in „Tonio Kröger“ eine Stelle, die Weidermanns These tatsächlich in auffallender Weise stützt. Es handelt sich um eine Anspielung auf Hans-Christian Andersens Märchen von der kleinen Meerjungfrau, die ihren Fischschwanz gegen menschliche Füße eintauscht, welche ihr dann aber bei jedem Schritt an Land höllische Schmerzen bereiten.
Die interessanteste Konfrontation mit dem Meer findet ausgerechnet im Hochgebirge statt. Hans Castorp lässt sich in seliger Erinnerung an Kindheitserlebnisse am Strand auf einen Ausflug in den Tiefschnee ein. Und tatsächlich verhält es sich mit diesem ganz ähnlich wie mit dem Sand der Ostsee: Haben Sonne und Frost ihn schon bearbeitet, kommt man recht bequem voran, andernfalls sinken die Füße ein, und der Weg wird beschwerlich. Entsprechend riskant ist das Hinausschwimmen, an der Küste wie auch in den Alpen. Castorp wagt sich mit seinen Ski immer weiter in die Wildnis, wird von einem Schneesturm überrascht, findet Schutz an einem Heuschober. Das Bewusstsein von Zeit und Raum schwindet, der Körper will sich der süßen Verführung des Schlafs hingeben. Zwar weiß Castorp, wie gefährlich das ist: einschlafen, mitten im Schneesturm. Aber liegt dieser Gefahr nicht eine heimliche Sehnsucht zugrunde?
Volker Weidermann bringt mit seiner Relektüre manch neue Erkenntnis über Thomas Manns Verhältnis zum Meer ans Licht. Seinem Publikum vermittelt er diese Einblicke in einer flüssig eingängigen Sprache: Wie er selbst große, komplexe Werke in wenigen Sätzen auf treffende Weise mit der Biografie des Autors verbindet und zielgenau auf das Buchthema zu fokussieren versteht, ist bemerkenswert. Allerdings drängt sich bisweilen auch der Eindruck auf, dass diese Annäherung fast ein wenig zu leicht, zu glatt verläuft. Gerne würde man zum Beispiel mehr erfahren über die Wechselbeziehungen zu anderen Dichtern und Philosophen seiner Zeit - etwa zum Dichter August Graf von Platen oder zu Friedrich Nietzsche. Den „Mann vom Meer“ bringt Weidermann uns gerade so nahe, dass wir ihn in seinen Umrissen erkennen. In die Tiefe seines ganz eigenen inneren Meeres dringt er jedoch nicht vor. Es muss ja für künftige Expeditionen noch etwas zu entdecken geben.