
Sein Bruder schicke ihm regelmäßig Postkarten. Auch anrufen tue er hin und wieder, „meistens während des Essens“. Und wenn er mal nach Hause komme, wolle er am liebsten „schnapsen“. So auf jeden Fall berichtet Hans Handke in Bernd Liepold-Mossers Dokumentarfilm „Griffen – Auf den Spuren von Peter Handke“ über seinen älteren Bruder. Die Bücher des Literaturnobelpreisträgers habe er nicht gelesen, gesteht Hans und schmunzelt. Nicht ein Einziges. „Viel zu schwer für mich, i brauch' an Tschinbumm.“
Immer wieder ist der 1942 geborene Peter Handke in sein Heimatdorf Griffen zurückgekehrt. In „Die Ballade des letzten Gastes“ tut er es wieder. Das Buch liest sich wie eine Variation seines 1981 erschienenen Stücks „Über die Dörfer“. Erneut kommt darin sein Alter Ego Gregor zurück in seinen Geburtsort, um die Geschwister Hans und Sophie zu besuchen. Doch während er in „Über die Dörfer“ klären muss, was mit dem Elternhaus nach deren Tod geschieht, leben Vater und Mutter im aktuellen Buch noch. Dafür lässt Handke Bruder Hans sterben. Kurz bevor Gregor mit dem Überlandbus seinen „Heimatkreis“ erreicht, ereilt ihn die Nachricht, dass Hans bei der Fremdenlegion ums Leben gekommen sei. Eltern und Geschwistern erzählt er erst mal nichts davon. Stattdessen wird er Taufpate von Sophies Kind und streift, wie er es immer bei seinen Besuchen zu tun pflegt, durch Wälder und Felder.
Es gibt, wie so oft bei Peter Handke, keine echte Geschichte
Ungewohnt episch beginnt Handkes neuer Text. Auch wenn der Protagonist sich dagegen sträubt zu erzählen. „Erzählen, Gestalten, Umgestalten, Verwandeln, all das kam für ihn in seinem Tun nicht in Frage.“ Nur Chroniken über sich selbst will er verfassen. Das ist sein Beruf auf dem fernen Kontinent, auf dem er seit Jahren lebt. Im Verlauf des Textes wird er diesem Anspruch immer mehr gerecht. Es gibt, wie so oft bei Handke, keine echte Geschichte. Gregor streift durch die Gegend. „Irregehen“ wird zum Programm. „Systematisches Sichverirren“, wie es im Buch heißt, zu einer Kunstform. Er sucht den alten Obstgarten auf, der ein anderer geworden ist, sitzt auf der Tribüne des leeren Neustadt-Stadions und schaut einem Fußball spielenden Mädchen zu, übernachtet im Bus, in einer Sakristei und im Wald. Bis er in den Gaststätten der Umgebung einen sicheren Ort findet und einen geradezu sportlichen Ehrgeiz entwickelt, jeden Abend der letzte Gast zu sein.
Bilder und Motive, die Handke-Leser aus früheren Büchern wie „Langsame Heimkehr“ (1979) kennen, werden variiert. Die Rückkehr in seinen Geburtsort in Kärnten, der nie mit Namen genannt ist, wird weniger zur schonungslosen Konfrontation mit dem Landleben als vielmehr zu einer Art Aussöhnung mit den Ausgestoßenen und Zurückgebliebenen. In den 2022 unter dem Titel „Die Zeit und die Räume“ publizierten Notizbüchern Handkes setzt er sich mit seinen ab 1976 wiederholt unternommenen Reisen in seinen Geburtsort auseinander und mit der Schreibkrise, die ihn Ende der 70er bis zur Verzweiflung trieb. Erst durch eine „Wende“ seines Schreibens konnte er sie überwinden. Kafka spielte dabei eine nicht unerhebliche Rolle, dessen Protagonist in „Die Verwandlung“ ebenfalls Gregor heißt.
Die Sprachkrise ist der Schatz, aus dem der Schriftsteller bis heute schöpft
War Peter Handke als junger Mann ein Revoluzzer, der den Schriftstellern der Gruppe 47 in Princeton „Beschreibungsimpotenz“ vorwarf und dem Theaterpublikum, das, wie er 1969 dem Österreichischen Rundfunk erklärte, eh nur aus alten Nazis bestehe, mit seiner „Publikumsbeschimpfung“ (1966) den Spiegel vorhielt, so entwickelte er nach dem Sprachverlust 1978 im Festhalten des Übersehenen seine neue Ästhetik und näherte sich aus einer Position der Moderne, die eine episch-beschreibende Erzählhaltung verfolgt. Die Sprachkrise von damals ist bis heute ein Schatz, aus dem der Schriftsteller schöpft, wie auch sein neues Buch belegt, in dem er einmal mehr nachspürt, wie sich etwas universell und zugleich konkret beschreiben lässt. Ein literarisches Programm, dem Peter Handke mit einer geradezu stur zu nennenden Selbstdisziplin folgt. Das hat seinen Reiz, artet mitunter aber auch in Solipsismus aus. Wer mehr auf „Tschinbumm“ steht, dem seien Handkes Bücher nicht empfohlen.
Das Buch: Peter Handke: Die Ballade des letzten Gastes. Suhrkamp, 186 Seiten, 24 Euro