Aus Mamas Sicht ist die Sache eindeutig. "Er ist ein Tier", sagt sie. Und spricht dabei über niemand anderen als ihren eigenen Vater. Und das auch noch gegenüber ihrem eigenen Sohn, für den ihr Wort gewöhnlich mächtig wiegt, so aufeinander geeicht ist dieses Duo im Alleinerziehenden-Alltag.
Und ist nicht verständlich auch, dass sie das sagt? Schließlich tritt mit diesem Opa etwas Ungeheuerliches in das Leben des bald 14-jährigen Jungen, ein Typ, der nach 18 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird und zuvor schon sechs Jahre gesessen hat, ein Typ, der nicht in diese Gegenwart samt der sich aufweichenden klassischen Rollenbilder passt, gewaltbereit, sobald er sich nicht ernst genommen fühlt, ein kantiger Monolith gegen die Stromlinien des Zeitgeistes, ein gefährlicher Mann.
Der Enkel geht auf einen Roadtrip mit seinem Verbrecher-Opa
Aber wie dieser Kerl von einem Opa Frank abstößt, so löst der auch etwas in ihm aus, steckt er doch ohnehin mitten in den Identitäts- und Unabhängigkeitsfragen des Erwachsenwerdens. Wagt er doch ohnehin schon annähernd Ungeheuerliches zu denken, als er zufällig seinen eigenen Vater samt dessen neuer Frau trifft: "Ich weiß also nicht, warum Papa gegangen ist. Ich würde nicht wollen, dass er zurückkommt. Trotzdem und niemals würde ich das laut sagen: Recht hat er gehabt."
Als Typ Mann aber lässt ihn der Vater als moderner Pseudo-Yuppie ebenso kalt, wie der sensibel verständige Künstler, der aus dem Umkreis von Mamas Arbeit an der Wiener Staatsoper nun ab und ab bei ihnen zu Hause auftaucht. Stattdessen geht Frank auf einen Roadtrip mit einem, von dem er doch sagt, er sei "der alte Sack, der Grausige, der mein Großvater ist, den ich lieber nie im Leben kennengelernt hätte, dieses asoziale Arschloch" – der ihn Frankie nennt, obwohl er das doch hasst, sich dem oll Aufschneiderischen, dem Möchtegern-Coolen in diesem Namen gegenüber erhaben fühlt. Und mit im dafür gestohlenen Auto ist auch eine geladene Pistole … Was daraus nur werden soll?
Köhlmeier findet für jedes Werk einen eigenen Ton
Ein kleiner, feiner Roman, in dem sich der Autor Michael Köhlmeier einmal mehr als einer der großen Erzähler unserer Zeit erweist. Was hat der 73-jährige Österreicher nicht schon alles gemeistert: von der intimen Geschichtsmanipulation einer Freundschaft zwischen Churchill und Chaplin in "Zwei Herren am Strand" bis zu einer ganzen Kulturgeschichte der Modernde, erzählt in den sieben Leben des titelgebenden Katers "Matou", vom großen, prägenden Post-Moderne-Roman "Abendland" bis zu einer Vielzahl an zeitlos klassischen Märchen (zuletzt im illustrierten Sammelband als "Die Märchen" erschienen), von Nacherzählungen Shakespeares oder der Bibel bis hin zur drastisch durch die deutsch-deutschen Zeitläufte ausufernden Schelmenstückmontage "Die Abenteuer des Joel Spazierer" … Äußerlich am nächsten kam seinem jetzigen Frankie wohl vor gut zehn die ebenfalls 14-jährige, titelgebende Madalyn mit ihren Coming-of-Age-Problemen. Aber prägender bei Köhlmeier ist doch immer, dass er für jedes Werk einen ganz eigenen Ton, fast eine eigene Sprache zu finden scheint.
Am Dienstag haben sie Opa entlassen. Er ist jetzt einundsiebzig. Mama wollte, dass ich mitgehe, ihn abholen. Wir sind erst im Zug bis Krems gefahren und dann weiter zu Fuß, aber ich habe es mir nach einer Weile anders überlegt und mich auf die Bank hinter der Fußgängerbrücke gesetzt. Mama hat gesagt: "Was jetzt?" Ich habe gesagt: "Ich warte hier."
So fängt es an. Und damit ist die Ich-Perspektive gesetzt, die Köhlmeier ausnahmslos beibehalten wird und freilich ein Risiko darstellt: Selbst im Alter des Opas glaubwürdig mit Blick des Enkels zu schreiben. Und damit ist dafür auch ein erster Ton gesetzt, ein relativ protokollarischer, fast lakonischer, der aber auch Raum für Rede- und Dialekt-Wendungen lässt.
"Ich tu fernsehen", sage ich. Ein langsamer, eigens eingefärbter Bilderstrom, in den sich nach und nach immer mehr Reflexionspassagen mengen, als würde sich die Veränderung Franks darin abzeichnen. Aber ohne dass der Junge dadurch psychologisiert und rational durchsichtig würde. Warum ich drei Tage später tat, was ich tat, kann ich nicht begründen.
Der kleine Abenteuerroman handelt von vielen großen Fragen
Denn Frank glaubt, erst durch das Erlebte zu wissen, was Verantwortung ist und was Schuld. Verantwortung kommt vor der Schuld. Wenn jemand Verantwortung hat und ihr nicht nachkommt, kann das zu einer Schuld führen. Der wichtigste Satz aber wäre: Wenn einer seiner Verantwortung nicht nachkommt, muss das nicht unbedingt heißen, dass auch er es ist, der die Schuld trägt an dem, was folgt, die Schuld kann nämlich auch ein anderer tragen. Oder bastelt er sich so nur ein Alibi für sich oder diesen Opa, dessen einstiges rätselhaftes Verbrechen die Familie bis ins Mark auf eine Art geprägt hat, von der Frank bis vor kurzem überhaupt keine Vorstellung hatte?
Von vielen großen Fragen also handelt dieser eigentlich doch kleine Abenteuerroman. Und um Konventionen schert sich Michael Köhlmeier dabei mal wieder angenehm wenig. Die Fragen der Moral bleiben hier ebenso uneindeutig wie die des Mannseins – weil dieser Autor das Leben seiner Figuren regieren lässt. Und weil es nur unmittelbar in diesem selbst Wahrhaftigkeit geben kann. Weil ohne Programm und letztliche Lösung die Sätze und Bilder selbst bleiben. Abenteuerlich, eigenwillig und stark wie das ganz Buch selbst.
Michael Köhlmeier: Frankie. Hanser, 208 S., 24 €
- Die Lesung
Michael Köhlmeier ist Stargast beim Literaturabend am 17. März um 19 Uhr in der Augsburger Stadtbücherei. Karten gibt es bei der Buchhandlung am Obstmarkt in Augsburg und über Reservix.