Nein, dies ist nicht der beste Roman von Julian Barnes. Etwas mehr als 230 Seiten zwar nur, aber keine Erzählung aus einem Guss, sondern eine, die in zwei Teile zerfällt: der eine, dazwischengeschobene, eher ein kluger Essay über den römischen Kaiser Julian Apostatas. Der andere als wiederum zweigeteilte Rahmenhandlung eher fein erzählte Novelle über die titelgebende Protagonistin, die Professorin: „Elizabeth Finch“. Wie immer bei Barnes liest sich das alles wunderbar elegant und mit grandioser Ironie, aber es fügt sich eben nicht ganz.
Das Bindeglied zwischen beiden Teilen ist der Ich-Erzähler Neil, gescheiterter Schauspieler, Kellner, Champignonzüchter, Beziehungschaos, zwei gescheiterte Ehen, Vater auf Abruf. Und zu Beginn des Romans Student an einer Londoner Abenduniversität, an der er ein Seminar zu „Kultur und Zivilisation“ besucht – Dozentin Elizabeth Finch. Er verfällt ihr sofort – rein platonisch das Ganze aber.
In der ersten Ansprache an ihre Studenten stellt die Professorin klar, was sie erwarten dürfen, was sie erwartet: Sie selbst sei „kein Sokrates, und Sie sind keine Platons, falls das der korrekte Plural ist. Dennoch werden wir einen Dialog führen. Dabei – und da Sie nicht mehr in der Grundschule sind – werde ich keine pflaumenweichen Ermunterungen und kein billiges Lob verteilen.“
Mit der Professorin wird scharf gedacht
Der Lebenslotterer Neil trifft also auf ein Gegenüber, das seinem Wesen so gar nicht entspricht: Elizabeth Finch ist eine etwas altmodische, praktisch gekleidete, disziplinierte, sich selbst gegenüber mitleidlose Wissenschaftlerin. Mit ihr wird scharf gedacht! Das aber macht wiederum „rigorosen Spaß“.
Was man auf den ersten Seiten von Finch erfährt, wie auch Student Neil: zum Beispiel, dass alles, was mit mono anfängt, in ihren Augen nichts Gutes sein kann. Monotheismus, Monomanie, Monogamie, Monotonie. Aber: „Ich bin bereit, die Nützlichkeit von Monografien einzuräumen.“ Häretiker und Apostaten findet sie spannender als die wahren Gläubigen, die heiligen Märtyrer. Den Tod der Ursula, die der Legende nach im vierten Jahrhundert mit 11.000 Jungfrauen in Köln von den Hunnen niedergemetzelt wurde, nennt sie salopp: „Suicide by Cop“.
Ein Seminar, dem man auch als Lesende begeistert folgt, nach knapp fünfzig Seiten aber muss man sich von der Professorin mit dem funkelnden Geist bereits verabschieden. Elizabeth Finch, mit der sich Neil nach Ende des Kurses zwei- bis dreimal im Jahr über knapp zwei Jahrzehnte hinweg zum Lunch trifft, stirbt – und vererbt ihm unerwartet ihre Bibliothek und alle ihre Papiere. Damit beginnt dann der zweite Teil.
Julian Apostatas versuchte das Christentum zurückzudrängen – durch Toleranz
Warum dieser Nachlass, was tun damit? Eine Biografie schreiben über die geheimnisvolle Professorin? Die Notizbücher geben so gut wie nichts Privates her. Nur kluge Gedanken. Er stößt auf ihren Eintrag zu Kaiser Julian Apostatas, der letzte heidnische römische Kaiser, Stoff auch im Seminar, und deutet das als Signal: Den Essay zum Abschluss des Seminars war er ihr schuldig geblieben, nun würde er einen über den letzten heidnischen römischen Kaiser nachliefern.
Was wäre gewesen, wenn Flavius Claudius Julianus, der Abtrünnige, der das Christentum durch eine perfide Methode – nämlich Toleranz – zurückdrängen wollte, nicht 363 n. Chr. jung auf dem Schlachtfeld gestorben wäre? Nachfolgende legten ihm den Schlusssatz in den Mund: „Du hast gesiegt, o Galiläer.“ Neil erweist sich als fleißiger Rechercheur, der gerne sein ganzes Wissen zur Schau stellen möchte, was den Essay gelegentlich theoriespröde werden lässt. Aber eben auch als der Denker, der seine Professorin vermutlich stolz gemacht hätte: „Man stelle sich die letzten fünfzehn Jahrhunderte ohne Religionskriege vor, vielleicht sogar ohne religiöse und rassistische Intoleranz. Man stelle sich eine nicht von der Religion behinderte Wissenschaft vor ... Man stelle sich den intellektuellen Sieg der Überzeugung vor, der die meisten Hellenisten anhingen – das alles, was das Leben an Freude zu bieten habe, in diesem unserem kurzen Aufenthalt auf Erden zu finden sei und nicht in irgendeinem absurden disneyfizierten Himmelreich, nachdem wir tot sind.“ Wobei: „Eine solche alternative Geschichte ist natürlich ebenso eine Fantasie wie der christliche Himmel.“ Zurück aber zu Elizabeth Finch, von der Neil auch nicht loskommt, nachdem er den Essay abgeschlossen hat, sich an einer Art Gedenkschrift versucht, auch der privaten Seite der Professorin nachspürt. Hoch oben auf dem von ihm errichteten Sockel kommt sie aber auch dem Leser nicht mehr näher. Neil steckt denn auch alles Geschriebene samt Notizbüchern in die Schublade.
Was für ein rigoroser Denkspaß
Lernen von und mit Elizabeth Finch, das aber ist der Professorin posthum weiter gelungen. Nicht der beste Roman also von Julian Barnes, aber der nichtbeste Roman von Julian Barnes ist immer noch ein ganz schön guter. Was für ein rigoroser Denkspaß. „In ihrer Gegenwart war ich klüger“, konstatiert Neil über seine Professorin. Könnte sein, dass man sich in der Gegenwart des Schriftsteller Barnesähnlich fühlt.
Julian Barnes: Elizabeth Finch. A. d. Engl. von Gertraude Krueger, Kiepenheuer & Witsch, 240 Seiten, 20 Euro.