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Literatur
"Der letzte Sessellift": Eine lange Abfahrt mit John Irving
Der amerikanische Schriftsteller hat seinen 15. Roman vorgelegt. "Der letzte Sessellift" greift wichtige Themen auf: abwesende Väter, Sex, Liebe und Geheimnisse.
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Foto: Toni Albir, EFE/epa/dpa (Archivbild) | Mit dem Ende anfangen: der Autor John Irving.
Stefanie Wirsching
 |  aktualisiert: 11.03.2024 12:04 Uhr

Wer einen Berg mit den Skiern hinunterfahren will, kann sich zumindest ganz oben meist entscheiden. Blau, rot oder vielleicht sogar schwarz, dann wird die Abfahrt meist steil und eisig. John Irving würde die schwarze vermutlich noch meistern, auch wenn er sich selbst nur als mittelmäßigen Skifahrer bezeichnet. Ganz im Gegensatz zu seinen Kindern und Enkeln. Einer seiner Söhne ist Skilehrer, zwei seiner Enkelkinder fahren im US-Skiteam. Im eben erschienenen Roman "Der letzte Sessellift" nimmt der amerikanische Schriftsteller, 81, einen nun jedenfalls mit auf die Piste: nach Aspen in Colorado, oder auch nach Wengen in der Schweiz. 1084 Seiten hat der Roman, der umfangreichste bislang, was nun auch immer noch kommen mag, soll knapper werden. Eine letzte lange Abfahrt also, es wird an manchen Stellen eisig werden, für den versierten Irving-Lesenden aber natürlich gut zu meistern. Erster Schwung nämlich ... und gleich vertrautes Gelände.

Im Buch „Garp und wie er die Welt sah“, das Buch, das Irving 1978 berühmt machte, war die Krankenschwester Jenny jene Mutter, die sich ein Kind wünscht, aber keinen Mann, und schließlich auch einen Weg dahin findet. Und Garp, dieses vaterlose Kind, das irgendwann seine Begeisterung fürs Ringen entdeckt, später Schriftsteller wird. 45 Jahre, elf Romane und mehrere vaterlose Kinder, junge Ringer und ringende Schriftsteller später heißt die Mutter Rachel, die vom Skirennen 1941 in Aspen ohne Medaille zurückkommt, aber doch mit dem von ihr gewünschten Erfolg, schwanger nämlich. Und das Kind, dessen Leben Irving nun auf den nächsten hunderten Seiten ausbreiten wird, das als Junge mit dem Ringen beginnt, später mit dem Schreiben, auf Vatersuche gehen wird, heißt Adam Brewster. 

Schräg und liebenswert - das typische Irving-Personal

Irving-typisch auch das übrige Personal, das den Roman bevölkert. Boshafte, kleingeistige Tanten, ein charismatischer, kettenrauchender Trainer, sehr kleine Menschen oder sehr große, für die Körpergröße ein eminent wichtiges Thema ist. Und viele Figuren, die nicht das Standard-Familienmodell leben: Mutter Rachel verbringt die Wintermonate im Skigebiet, während Adam bei den Großeltern in Exeter, New Hampshire, bleibt, wo die Großmutter dem Kind gerne „Moby Dick“ vorliest. Rachel heiratet später zwar den Englischlehrer Elliot Barlow, der aber wird sich zur Englischlehrerin verwandeln, sie selbst lebt mit der Pistenpflegerin Molly zusammen. Adams Cousine Nora wiederum tritt gemeinsam mit ihrer Freundin Em in New York im Comedy-Club Gallows Lounge auf mit dem Programm „Zwei Lesben, eine spricht", was mehr ist als nur ein schräger Titel: Freundin Em, begnadete Pantomimin, hat tatsächlich das Sprechen aufgegeben. 

Typisch Irving also, schön, schräg, skurril, auch Geister treten auf, und typisch auch das Themenfeld, das Irving nun schon so lange literarisch beackert: Toleranz gegenüber Minderheiten und gegenüber anderen Lebensmodellen. Irving und wie er die Welt sieht. 

"Wann wurde alles politisch?", fragt sich der Ich-Erzähler

Immer wieder liest sich der Roman daher auch wie ein Vermächtnis. Irving beschreibt Amerikas jüngere Geschichte, angefangen vom Vietnam-Krieg über die Reagan-Jahre, die Aids-Epidemie bis hin zum Trump'schen Wahnsinn und dem immer unversöhnlicher ausgetragenen Kulturkampf zwischen Liberalen und Konservativen - und bezieht Position. „Wann wurde alles politisch? In Amerika fiel mir nicht auf, wann oder wo es losging - ich wachte einfach eines Morgens auf, und alles war politisch. In Amerika passte ich nicht auf, als gerade erst begann, was uns spalten sollte“, erklärt der Ich-Erzähler, unschwer als Alter Ego von Irving zu erkennen, an einer Stelle. Und während Adam sich langsam ein Bild von der Welt zusammensetzt, erste, meist in irgendeiner Weise versehrte Freundinnen hat, berühmt wird, eine Lektorin heiratet, seinen Vater sucht, zerfällt die Gesellschaft um ihn herum. Die kleine, schräge Familie aber hält zusammen. Sorgt sich umeinander. Die Mutter kauft sich ein Gewehr, um Adam notfalls ins Knie zu schießen, falls er einen Einberufungsbefehl nach Vietnam erhalten sollte. Es sind dann seine durchs Ringen malträtierten Hände, die ihn vor beidem bewahren. Er selbst sorgt sich vor allem auch um den transsexuellen Elliot Barlow, seinen Stiefvater, den 1,45 Meter kleinen Englischlehrer, der nachts in den Kleidern der Mutter unterwegs ist. Auch das ist eines der großen Themen von Irving: die Angst, die Liebsten zu verlieren. Was auch diesmal passieren wird. Aber als Gespenster kommen sie zurück, sitzen auch im Sessellift. 

Keine leichte Abfahrt - auch nicht für Fans

Alles also typisch Irving, liest sich also auch so. Unterhaltsam, komisch, tiefgründig und immer wieder zum Heulen schöne Sätze. Aber auch für Irving-Fans ist es diesmal keine leichte Abfahrt, stellenweise anstrengend und auch ermüdend. Über Seiten hinweg erzählt Irving die Geschichte beispielsweise als Drehbuch, was der Ich-Erzähler Adam zwar plausibel begründet: Entscheidende Momente im Leben könne man immer wie einen Film abspulen, als passiere das, was man sieht, zum ersten Mal. Und so sind aber genau die wesentlichen Abschnitte wirklich die eisigsten und buckligsten Stücke auf dieser Abfahrt. An anderen Stellen nimmt Irving Tempo durch Redundanzen, durch extrem langsames Erzählen heraus, wechselt auf Nebenstrecken. Alles, alles will erzählt werden. Und diesmal noch ein bisschen mehr. Familiengeschichte, Lebensgeschichte, amerikanische Geschichte, Skigeschichte, Filmgeschichte ... Schwung, Schwung, Schwung. Ein letzter großer Roman, ein letzter Sessellift, man liest ihn mit leichter Melancholie. Schaut unten am Ziel wehmütig zurück, verabschiedet sich von liebgewonnenen Charakteren. Den letzten Satz schreibt Irving, wie man weiß, immer zuerst. Diesmal: "Ich versuche, nicht an das Verschwinden zu denken." 

 
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