
Die Kamera fährt langsam an einer langen Reihe von Sesseln entlang, die durch Seitenwände voneinander abgetrennt sind. Das Licht ist bunt und schummrig. Von den Männern, die in den Sesseln Platz genommen haben, sieht man nur die Beine und manchmal eine Hand. Auf ihren Schößen räkeln sich spärlich oder gar nicht bekleidete Frauen, deren Rücken sich geschmeidig bewegen. Anora – genannt Ani (Mikey Madison) – verdient in diesem Stripclub am Rande New Yorks ihren Lebensunterhalt. Sie hat es in dem Kinofilm „Anora“ drauf, die Männer um den Finger zu wickeln, und fährt gute Honorare ein.
Der Film „Anora“ hat die Filmfestspiele von Cannes gewonnen
Als der Chef für einen besonders gut betuchten Kunden eine Tänzerin sucht, die Russisch spricht, meldet sich Ani zögernd. Die Großmutter kam aus Usebekistan in die USA und hat ihr ein paar Brocken beigebracht. Im Private Room sitzt Vanya (Mark Eidelshtein) ordentlich zugedröhnt und die Taschen voller Geld. Ihm gefallen nicht nur Anis Sprachkenntnisse und am Ende der Nacht fragt er sie, ob sie auch „außerhalb des Clubs“ arbeite. Vanya freut sich wie ein junger, aufgeregter Hund, als Ani am nächsten Tag vor der Tür seiner geräumigen Villa in Brighton Beach steht. Der junge, aber keineswegs erwachsene Mann ist der Sohn eines russischen Oligarchen. Eigentlich soll er in den USA studieren, aber Vanya verprasst im hedonistischen Dauermodus die väterlichen Unterhaltszahlungen ohne Ausbildungsambitionen.
Ani versteht etwas von ihrem Job und so weitet sich das bezahlte Date in ein einwöchiges 15.000-Dollar-Engagement aus. Auf geht es mit einer Gruppe von partywilligen Freunden im Privatjet nach Las Vegas, wo es Vanya und Ani richtig krachen lassen. Am Ende landen beide in einer Hochzeitskapelle, die Ani mit einem 4-Karäter am Ringfinger und einem Trauschein in der Hand verlässt. Die spontane Heirat ist eine Mischung aus Partyeuphorie, Liebe und praktischen Erwägungen. Vanya hofft mit der Hochzeit auf die US-Staatsbürgerschaft, um nicht mehr nach Russland zurückzu müssen. Für Ani erfüllt sich ein materieller Aschenputtel-Traum.
Sean Bakers „Anora“ rauscht in einer Stunde zum vermeintlichen Happy End
Aber wir sind hier nicht in „Pretty Woman“. Innerhalb einer knappen Stunde ist Sean Bakers „Anora“, der in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, zum vermeintlichen Happy End gerauscht, aber nun geht der Film erst richtig los. Nachdem die mächtigen Eltern aus der russischen Boulevardpresse von der Hochzeit erfahren haben, schicken sie den armenischen Priester Toros (Karren Karagulian) los, der den verzogenen Sohn zur Vernunft bringen und – koste es, was es wolle - die Annullierung der Ehe organisieren soll.
Als er mit seinen Handlangern Garnick (Vache Tovmasyan) und Igor (Yuriy Borisov) in der Villa auftaucht, eskaliert die Situation sofort. Vanya ergreift die Flucht und lässt Ani mit dem Häschern zurück. Mit einem gellenden Schrei und zahlreichen herumfliegenden Gegenständen macht die Ehefrau ihre mangelnde Verhandlungsbreitschaft deutlich. Klein beigeben, steht nicht auf Anis Agenda und die Nebenerwerbsgangster scheinen der Situation in keiner Weise gewachsen.
Von der Cinderella-Story zur Mobster-Komödie irrlichtert Sean Bakers „Anora“ in einem hochdynamischen Modus. Baker hat bisher mit Filmen wie „Florida Project“ (2017) und „Red Rocket“ (2021) die US-Gesellschaft aus der Perspektive des Prekariats porträtiert und dabei immer ein großes Herz für seine unvollkommenen Charaktere bewiesen. In „Anora“ lässt er nun die Lebenswelten einer Sexarbeiterin mit dem obszönen Reichtum eines Milliardärszöglings aufeinanderprallen. Romantik und materieller Pragmatismus verbinden sich in dieser Liebesgeschichte bruchlos. Wenn sich Ani mit den drei Ganoven auf die Suche nach ihrem flüchtigen Ehemann macht, weitet sich die Perpektive zu einer Milieustudie der russischen Community in Coney Island, die immer wieder durch schlagfertige Dialoge und handfesten Slapstick angereichert wird.
Von der Sexarbeiterin über die Gangstercharaktere bis hin zum russischen Oligarchen hebelt Baker munter alle Klischees aus und wirft einen zutiefst menschlichen Blick auf seine Figuren. Das gilt natürlich besonders für die Titelheldin, der Mikey Madison als schauspielerische Naturgewalt eine enorme Energie, Präsenz und Kontur verleiht. Am Ende findet Baker sogar den Mut, wieder von der Komödienroute abzubiegen - hin zu einer melancholischen Schlusswendung, die mitten ins Herz trifft.
„Anora“ läuft am 31. Oktober in den Kinos an.