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Krieg in Nahost
Wie der Nahost-Konflikt in die Klassenzimmer kommt
Viele Lehrer schrecken davor zurück, den Krieg in Nahost zu besprechen. Eine Graphic Novel der Neuköllner Campus-Rütli-Schulen zeigt, wie’s geht. 
Stefanie Schoene
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:41 Uhr

Der Campus Rütli in Berlin-Neukölln ist in vielerlei Hinsicht besonders. Seine Vergangenheit als gefährliche Skandal-Schule hängt der Einrichtung noch nach. Doch vielleicht sind es gerade die Hilferufe der bedrohten Lehrer von damals, die die Schulfamilie heute motivieren, es anders zu machen, die Einwanderungsgesellschaft ernst zu nehmen, Neues auszuprobieren. Die Sekundarstufen I und II (Klasse 7-12 Stufe) besuchen zu 50 Prozent Kinder mit arabischer Herkunft, insgesamt sprechen 80 Prozent der Schüler zu Hause eine andere Sprache als Deutsch – eine Homogenität, wie sie wohl an keiner anderen deutschen Schule zu finden ist. Und wenn sich weit weg in Gaza und Israel die Wellen des Nahost-Konfliktes auftürmen, Menschen ermordet werden und Bomben explodieren, sind die Erschütterungen bis an den Campus Rütli zu spüren, als wäre der Krieg auf der Sonnenallee um die Ecke. 

„Habibi, ich hab' keinen Bock, denen was zu schenken.“ In einem 60-seitigen schwarz-weiß-Comic stöbern Zeki und Malik durch die Läden Neuköllns auf der Suche nach Gastgeschenken. Im Vorfeld einer Exkursion nach Israel, auf die sie sich an der Campus-Rütli-Gesamtschule ein Jahr lang vorbereitet haben, herrscht große Aufregung. Die einen sind nervös, weil ihre Großeltern aus den palästinensischen Gebieten stammen und sie zum ersten Mal deren Heimat und das „Feindesland“ Israel bereisen. Die anderen freuen sich auf die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem, zu der nur Muslime Zutritt haben, auf Bethlehem, weil Jesus da geboren worden sein soll. Der Rest freut sich auf ein Abenteuer. Wie das bei Klassenfahrten so ist. In dem Comic „Mehr als 2 Seiten – eine Reise von Neukölln nach Israel und in die palästinensischen Gebiete“ sind die beiden Jungen und alle anderen Figuren zugleich fiktiv und echt. Denn sowohl ihre Gesamtschule auf dem Campus Rütli als auch die Kursfahrt der Klasse zehn nach Israel gibt es wirklich.

Die Jugendlichen im Comic heißen Heba, Narges und Ranya

Sie sind besondere deutsche Jugendliche. Sie heißen Heba, Narges, Ranya, nicht Max oder Janine. Die 17-jährige Heba war bis 2017 noch in Syrien. Dort ist Israel der Feind und „an allem“ Schuld. Mit ihrem syrischen Pass ein Visum für die Exkursion nach Israel zu bekommen, war auch in der Realität eine aufwendige Sache. Beide Länder sind bis heute Kriegsparteien. In kurzen Erklär-Passagen zwischen den Bildern erfährt man: Ein Friedensvertrag zwischen Israel und Syrien wurde nie geschlossen. Die Folgen spürt Heba. Ihre Zitterpartie um das Visum dauert bis zum Abflugtag. Dann die Überraschung: Nur für sie öffnet ein Beamter der israelischen Botschaft in Berlin an einem Sonntag 2020 die Türen, überreicht das Visum. Jetzt kann's losgehen.

Die Geschichte lässt Raum für Wut und Projektion der Jugendlichen, für die Begegnung mit israelischen und palästinensischen Eltern, dekonstruiert einseitige Opfermythen, wie sie unter arabischen und muslimischen Jugendlichen kursieren. 

Erzählerische Episoden und kleine Übungen vermitteln den Nahost-Konflikt

Während die Jugendlichen zwischen Tempelberg, Klagemauer, Strandbesuch und Bethlehem umherreisen, sind zwischen den Episoden leicht verständliche Erklärungen zur Historie und kleine Übungen zum Verarbeiten der Informationen eingestreut. Sparsam, um den Fluss der Geschichte nicht zu stören. Unbekannt ist zumeist, dass es ein Angriff mehrerer arabischer Staaten war, der 1948 anlässlich der von den Vereinten Nationen beschlossenen Gründung Israels die Gründung Palästinas sabotierte. Ohne diesen Angriff hätten die Palästinenser längst einen Staat. Stattdessen standen die vorgesehenen Regionen plötzlich unter arabischer Besatzung. „Viele Jugendliche hören in dem Kurs zum ersten Mal davon. Für sie ist meist Israel der einzig Schuldige“, erklärt Mehmet Can, Geschichtslehrer und Mit-Autor des Comics. 

Can unterrichtet den zweijährigen Wahlpflichtkurs „Israel/Palästina“ am Campus Rütli. 2018 schob er das Thema als AG mit Schülern an, weitere Kollegen führten den Stoff zeitgleich als reguläres Fach ein. „Es geht um Wissen, aber vor allem geht es um Beziehungsarbeit. Nur wenn ich die Kinder emotional erreiche, lässt sich an dieser Stelle Rationalität und demokratisches Denken verankern“, so sein Fazit. Can war es auch, der die Exkursion 2020 organisierte, aus der die Graphic Novel zusammen mit den Jugendlichen entwickelt wurde. Extra Finanzierungen gab es weder für die Reise noch für die Graphic Novel. Gewonnene Preisgelder und eingeworbene Spenden tragen das Vorhaben. Die Reise zahlen die Kinder zumeist selbst.

Nachfrage-Boom des Comics nach Hamas-Angriff auf Israel

Der 7. Oktober löste einen Nachfrage-Boom für das Comic-Heft aus. Im Januar werden sie das Heft laut Can 10.000 Mal verschickt haben. Mehrere Schulen meldeten den Rütli-Kollegen, den Wahlpflichtkurs ebenfalls einführen zu wollen. Auch wenn sie in Neukölln einfach nur „mit Wasser kochen“, wie Can es ausdrückt – hier ließen sich lohnend Projekte öffentlich finanzieren, die in Tiefe, Länge und Kontinuität den viel beschworenen Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland effektiv aufnehmen könnten.

Info: Das Comic-Heft kann auf www.mehrals2Seiten.de bestellt werden. Eine Handreichung zum Unterricht „Israel/Palästina“ der Rütli-Gesamtschule gibt es unter www.ibim.info

 
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