Patti Smith schlendert ohne viel Furore auf die Bühne. Mit ein wenig Verzögerung erkennen die rund 2500 Zuschauerinnen und Zuschauer sie auf der Bühne im Kloster in Ulm-Wiblingen und beginnen zu jubeln, als die ersten Akkorde erklingen. Patti Smith' Musik braucht keine große Show, keine inszenierten Anfänge. Sie ist eine Verlängerung ihrer Geisteshaltung, mit der sie seit über einem halben Jahrhundert Menschen auf der ganzen Welt fasziniert und inspiriert. Bei einem der wenigen Live-Auftritte in Deutschland beweist die 76-jährige Punk-Legende: Sie ist eine wahre Meisterin des Geschichtenerzählens.
Smith bringt Punk-Energie in den malerischen Klosterhof. Sie verfügt über ein kraftvolles Organ, das sich wie seine Trägerin nicht den Gesetzen der Zeit zu unterwerfen scheint. Ihre Stimme ist nölig und eindringlich. Ihren Gesang unterstreicht sie mit großen Gesten,die die Menschen mehrmals von ihren Sitzplätzen ziehen und zu Szenenapplaus animieren. Die meisten Songs an diesem Abend sind altbekannt ("Gloria", "People have the Power") und werden in den Mündern des Publikums zum Mantra. Patti Smith trägt ihre Lyrik vor, und dabei tritt beinahe in den Hintergrund, dass sie sie synkopisch über Rock-Akkorde legt. Dass ihr Auftritt beeindruckt, liegt an der Intensität ihrer Worte, die sie mal leichtfüßig über die Bühne tänzeln, mal nervös mit den Beinen wackeln lassen.
Der Aktivismus treibt Wut in Patti Smith' Stimme
In ihrem autobiografischen Buch "Just Kids" (2010) schreibt Smith über ihren zurückhaltenden Enthusiasmus für Andy Warhol und ihren Anspruch an Kunstschaffende: "Mir war ein Künstler lieber, der seine Zeit umgestaltete, nicht bloß widerspiegelte." Diesem Anspruch folgend sympathisiert sie mit der europäischen Klimabewegung. Anfang Juni etwa unterstützte sie Greta Thunberg beim letzten Klimastreik ihrer Schulkarriere. Der Aktivismus treibt auch in Wiblingen Wut in ihre Stimme, als sie das Publikum drängt: "Bewahrt die Erde für unsere Kinder, für unsere Zukunft. Und die Zukunft ist jetzt!"
Wenige junge und viele jung gebliebene Fans verbringen diesen lauen Sommerabend mit Patti Smith und ihrer Band in dem idyllischen Klosterhof. Mit ihr auf der Bühne stehen ihr langjähriger Weggefährte Tony Shanahan an Bass und Klavier, Schlagzeuger Seb Rochford und ihr Sohn Jackson Smith an der Gitarre. Im Oktober wird das Patti Smith Quartet noch einmal nach Deutschland reisen. Dann spielen sie Konzerte in Karlsruhe, Weimar, Frankfurt und Leipzig. Außerdem sind – auf Einladung von Dirigent Daniel Barenboim– drei ausverkaufte Abende in Berlin geplant.
Patti Smith' Leben birst mit Anekdoten über Legenden der Musik- und Geistesgeschichte
Auf der Bühne erzählt Smith, sie habe am Ulmer MünsterBertolt Brechts Gedicht "Ulm 1592" gelesen, jene Geschichte über einen Schneider, der von dem Wunsch zu fliegen besessen ist und der Legende nach in einem selbst gebastelten Federkleid vom Turm des Ulmer Münsters sprang. Wenn Smith spricht, klingt sie zugänglich. Sie versucht mit dem Publikum zu interagieren, das allerdings die Hürde zum Megastar auf der Bühne nicht überwinden kann. In Smith' Version der berühmten Erzählung ist der Schneider keine Ikarus-Figur, die der Hochmut zum sprichwörtlichen Fall bringt. Alle hielten ihn für einen Narren, der sich zu viel mit der Anatomie von Vögeln beschäftigte, erzählt Smith. In ihren Augen aber sei er ein Visionär. "Natürlich stürzte er auf den Boden vor dem Ulmer Münster", ruft Smith über die Anfangsakkorde des nächsten Songs, aber: "Für einige wenige Sekunden war er ein verdammter Vogel!"
In ihrem 2022 erschienenen Fotojournal "Buch der Tage" schreibt sie von einer weiteren Verbindung zu Augsburgs berühmtestem Sohn: "Wenn ich das Grab von Bertolt Brecht (in Berlin, Anm. der Red.) besuche, halte ich jedes Mal inne, um die Flügel zu berühren." So bedanke sie sich für die Arbeit des Dramatikers, sagte sie in einem Interview mit der Berliner Zeitung vor einigen Monaten.Patti Smith' Leben birst mit Anekdoten über Legenden der Musik- und Geistesgeschichte. Auf dem Konzert im Kloster Wiblingen widmet sie kürzlich verstorbenen Weggefährten Songs: Tina Turner etwa und Tom Verlaine, dem einstigen Sänger der New Yorker Rockband Television, der an Patti Smith' Debütalbum "Horses" beteiligt war.
Es sind die Gegensätze, die Patti Smith als Künstlerin und Menschen so interessant machen: die Dringlichkeit in ihren Texten und das absolut Lässige ihres Vortrags. Sie ist eine liebevolle Mutter, die die Bühne verlässt, um ihrem Sohn Jackson Smith Raum für seine Gitarrensoli zu lassen, und gleichzeitig eine Konventionen überwindende Punkerin. In Jeanshose und offenen Haaren verknüpft sie das Profane mit Geschichten aus einem überreichen Leben zwischen den größten Musiklegenden der letzten fünfzig Jahre.
