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Kommentar
Ein unauflösbares Problem für die Documenta
Die Mega-Schau steht nach neuen Antisemitismus-Vorwürfen vor einer Zerreißprobe: Wie kann sie deutschen Wertvorstellungen gerecht werden und ihrem Anspruch als Weltkunstausstellung?
Richard Mayr
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:55 Uhr

Die Documenta schmückt sich gern mit dem Titel "Weltkunstausstellung". Seit ihrer ersten Auflage im Jahr 1955 hat sie sich kontinuierlich weiterentwickelt und dadurch den Kunstbegriff geweitet und geschärft. Dabei hat diese alle fünf Jahre stattfindende Mega-Ausstellung in Kassel es geschafft, selbst zu einer Marke im globalen Kunstgeschehen zu werden. Ort, an dem Karrieren beschleunigt werden, Begegnungsraum für Neues und Überraschungen und gleichzeitig künstlerischer Trendsetter. Die Krise, in die die Documenta nun geraten ist, greift all dies gleichzeitig an. Die Weltkunstausstellung steht vor einer Zerreißprobe, ist zu einem politischen Spielball geworden und droht eines ihrer wichtigesten Güter zu verlieren: das Gewähren von Kunstfreiheit.

Die Misere begann im vergangenen Jahr. Damals war die Documenta konsequent den nächsten Schritt gegangen und hatte ein künstlerisches Kollektiv aus Indonesien als Team mit der künstlerischen Leitung der millionenteuren Großschau betraut. Allerdings blieb am Ende der fünfzehnten Documenta in Kassel ein Thema, über das sich alle erbittert stritten: antisemitische Kunstwerke und der Umgang damit. Die Kuratoren lehnten von Anfang an die kuratorische Verantwortung ab. Sie hatten Künstlerinnen und Künstler, Aktivistinnen und Aktivisten aus der ganzen Welt eingeladen, einfach zu machen – ohne diese zu beaufsichtigen. Die Geschäftsführung der Documenta verwies auf die künstlerische Freiheit der Kuratoren. Welches Gut zählt mehr? Die künstlerische Freiheit oder der diskriminierungsfreie Raum? Ein unlösbares Problem, sobald der Ernstfall eintritt.

Die Documenta bedarf eines langen Vorlaufs

Ein gutes Jahr später steckt die Documenta noch tiefer in der Krise. Denn allen Reden zum Trotz, aus dem vergangenen Jahr zu lernen, lief die Vorbereitung für die Weltkunstausstellung 2027 einfach gleich wieder an. Ein solches Großereignis bedarf eines langen Vorlaufs. Die künstlerische Leitung muss früh feststehen. Doch nun ist dieser Prozess mit dem Rücktritt der Findungskommission krachend gescheitert. Wieder ging es dabei um Antisemitismusvorwürfe. Gleichzeitig stand die drängende Frage, die Gretchenfrage der Documenta, im Raum: Wie hält man es mit der Kunstfreiheit, wenn deutsche Wertvorstellungen beachtet werden sollen?

Die Fragen können nicht voneinander gelöst werden. Der indische Schriftsteller Ranjit Hoskoté trat zurück, weil er sich vorbehalten wollte, auch den Staat Israel kritisieren zu dürfen. Sobald die Kunstwelt in den Bereich der Welt gerät, in dem der Israel-Palästina-Konflikt ein großes Thema ist, wird die Kunst in dieser Hinsicht schnell politisch. Wie damit umgehen?

Die Weltkunstausstellung in Kassel zeigt wie unter einem Brennglas, wie aufreibend der Weg in eine Weltgesellschaft wird, die die moralischen Säulen der westlichen Industriegesellschaften nur als eine Möglichkeit unter vielen betrachtet. Die Documenta geht sicher den richtigen Weg, erst einmal über ihre Struktur nachzudenken und den Skandal des vergangenen Jahrs aufzuarbeiten, bevor sie sich eine neue künstlerische Leitung sucht. Eine einfache Antwort auf die komplexer gewordene (Kunst-)Welt wird sie so wenig wie andere Institutionen geben können. Wenn Zusammenarbeit über Kulturgrenzen hinweg auf Augenhöhe stattfinden soll (sie ist das Gebot der Stunde), wird dies zwangsläufig zu Zumutungen führen, für beide Beteiligte, manches Mal auch schwer ertragbare. 

 
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