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Venedig
Politische Filmfestspiele: Grausamkeiten an Europas Grenzen
Die Löwen werden in Venedig vergeben. Nach einem durchwachsenen Beginn wurden die Filme im Wettbewerb zunehmend politischer.
Noemi Schneider
 |  aktualisiert: 11.03.2024 10:36 Uhr

Die Filmfestspiele von Venedig befinden sich auf der Zielgeraden. Ein paar Favoriten zeigen sich. Dieser Film gehört nicht dazu, auch wenn er mit einem klugen Zitat beginnt: Ein Kunstwerk beantworte keine Fragen, es provoziere sie, hat der amerikanische Dirigent Leonard Bernstein gesagt. Regisseur und Schauspieler Bradley Cooper stellt es seinem Film „Maestro“ voran. Cooper verhandelt darin die Beziehung zwischen dem Dirigenten und seiner Ehefrau, der chilenischen Schauspielerin Felicia Montealegre. Die Netflix-Produktion war bei den Filmfestspielen in Venedig mit Spannung erwartet worden und fiel durch, denn weder der Musiker noch der Mensch Leonard Bernstein werden, trotz der fast perfekten Imitation des Hauptdarstellers Bradley Cooper, in diesem streckenweise sehr biederen Drama greifbar.

Vielleicht wäre die Ehefrau die interessantere Hauptfigur gewesen, aber dafür hätte es eine Regisseurin wie Sofia Coppola gebraucht, die sich in ihrem Wettbewerbsbeitrag „Priscilla“ ebenfalls eine toxische Promibeziehung vornimmt. 1959 lernt die 14-jährige Priscilla Beaulieu den zehn Jahre älteren Elvis Presley auf dem amerikanischen Militärstützpunkt bei Wiesbaden kennen. Elvis, der gerade seine Mutter verloren hat, findet in Priscilla eine Zuhörerin und macht sie zu seiner Vertrauten. Im Kinosessel entsteht zunehmendes Unbehagen, wenn man zusieht, wie der tablettensüchtige King of Rock ’n’ Roll das Schulmädchen zu seinem Geschöpf umformt.

Sofia Coppola gelingt es, die Perspektive von Priscilla Presley erfahrbar zu machen

Mit 17 holt er sie, mit dem Einverständnis ihrer Eltern, zu sich nach Graceland, verordnet ihr eine neue Haarfarbe, gibt ihr Drogen und fordert absolute Verfügbarkeit ein. Sie muss da sein, wenn er nach Hause kommt. Sie heiraten 1967. Aus der Zeitung erfährt Priscilla von den Affären von Elvis. Nach zehn Jahren hat sie genug und verlässt den goldenen Käfig. Sofia Coppola gelingt es, die Perspektive dieser Frau erfahrbar zu machen, die Elvis bis heute die Stange hält. Priscilla Presley, die den Film mitproduziert hat, kämpfte auf der Pressekonferenz mit den Tränen und bekräftigte ihre immerwährende Liebe zum King.

Das Geschöpf eines Mannes ganz anderer Art ist Bella Baxter im umjubelten Wettbewerbsbeitrag des griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos „Poor Things/Arme Dinger“, basierend auf dem gleichnamigen Roman des schottischen Autors Alasdair Gray. In der feministischen Frankenstein-Version erweckt der Wissenschaftler Godwin Baxter eine wunderschöne junge Selbstmörderin wieder zum Leben, indem er ihr das Gehirn ihres ungeborenen Kindes einsetzt. Bella Baxter (Emma Stone) lernt begierig – ihr Körper ist der einer erwachsenen Frau, doch ihr Gehirn muss sich erst entwickeln – was zu Konflikten führt. Alsbald verlässt sie ihren Schöpfer, um mit einem zwielichtigen Anwalt (Mark Ruffalo) zu einer rasanten Grand Tour durch Europa aufzubrechen und alles auf den Kopf zu stellen. Der erste große Favorit auf dem Lido.

Agnieszka Holland thematisiert Europas Versagen in der Flüchtlingspolitik

Ein weiterer, sehenswerter Beitrag stammt von der ersten afroamerikanischen Regisseurin im Wettbewerb Ava DuVernay. In ihrem Spielfilm „Origin“ porträtiert sie die preisgekrönte Journalistin und Autorin Isabel Wilkerson (Aunjanue Ellis-Taylor) und zeigt deren Recherchen zum Bestseller „Kaste. Die Ursprünge unseres Unbehagens“. Ausgangspunkt ist die Ermordung des Schwarzen Teenagers Trayvon Martin durch einen Hispanoamerikaner. Ging es um Rassismus, oder um viel mehr? Wilkerson geht der Frage nach und entdeckt Verbindungen zwischen dem Rassismus in den USA, dem Dritten Reich und dem indischen Kastensystem. Sie reist nach Berlin und Delhi und analysiert die Mittel zur Aufrechterhaltung dieser „Kastensysteme“. Nebenbei erzählt der Film von der großen Liebe Wilkersons zum früh verstorbenen Ehemann Brett.

Einen filmischen Paukenschlag liefert die 74-jährige polnische Regisseurin Agnieszka Holland mit ihrem Film „Zielona Granica/Grüne Grenze“ ab, in dem sie sich der Situation an der europäischen Außengrenze zwischen Polen und Belarus widmet, den Machtspielen zwischen dem belarussischen Diktator Lukaschenko und der EU und Europas Totalversagen in der Flüchtlingspolitik. Eine zum Himmel schreiende filmische Anklage, die im Oktober 2021 im Flugzeug nach Minsk beginnt. Eine syrische Familie und eine Englischlehrerin aus Afghanistan werden zur Schicksalsgemeinschaft auf dem Weg in die EU.

Mit Rosen werden die Gäste in Belarus von Stewardessen willkommen geheißen. Dann geht es nur noch bergab. Ein Minibus bringt sie zur Grenze. Sie kriechen unter dem Stacheldraht hindurch und rennen durch die Sperrzone in polnische Wälder. Dort werden sie von der polnischen Grenzpolizei wieder zurück nach Belarus gebracht (Pushback) und von den belarussischen Grenzern wieder zurück nach Polen und so weiter und so fort. Asyl in Polen? Keine Chance. Um Menschen handele es sich bei den Geflüchteten nicht, wird den polnischen Grenzern eingetrichtert, sondern um Terroristen, Kinderschänder und Vergewaltiger. Holland erzählt diese wahre Geschichte mit einem großartigen Schauspielerensemble in schwarz-weißen Bildern aus der Sicht der Geflüchteten, der Grenzpolizisten und der polnischen Menschenrechtsaktivisten. Der Film ist eine Tour de Force – bei der so mancher den Kinosaal verlässt, weil es nur schwer zu ertragen ist. Am Ende zeigt Holland auch, wie dieselben brutalen polnischen Grenzer einige Monate später Hunderttausende ukrainische Flüchtlinge in Polen willkommen heißen.

Es gebe immer zwei Seiten, betont die Regisseurin während der Pressekonferenz, wo sie den Text einer polnischen Aktivistengruppe verliest und mit einer Schweigeminute der Toten gedenkt. Großes politisches Kino auf dem Lido und sicherlich ein aussichtsreicher Kandidat für einen Löwen ebenso wie Matteo Garrones „Io Capitano“. Auch der italienische Regisseur widmet sich dem Migrationsthema und begleitet zwei senegalesische Teenager, die von Europa träumen, auf ihrer Odyssee ins gelobte Land Italien. Nach der Premiere gab es stehende Ovationen, zwölf Minuten Applaus und viele Fragen an Europa. 

 
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