
Der alte Eisenbahnwagen, der einfach so im Garten steht – wer als Kind Erich Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“ gelesen hat, wird das Bild dieses verwunschenen Zufluchtsortes immer im Gedächtnis behalten. Für die Kinder im Roman wird der Waggon, von dem niemand weiß, wie er ohne Gleise dahin gekommen ist, zu einem geheimen Exil. Dort können sie die Konflikte des Schulalltags hinter sich und die Fantasie schweifen lassen. Der Besitzer des Gartens, der anders ist als all die anderen Erwachsenen, lässt sie gewähren und genießt den frischen Wind im Eigenbrötlerdasein. Hier begegnen sich nicht nur die Schulfreunde auf Augenhöhe, sondern auch die Kinder- und Erwachsenenwelt. Denn das Besondere an Kästners Buch ist, dass er die Probleme von groß und klein gleichermaßen ernst nimmt und beide Seiten voneinander lernen lässt.
Kein Wunder also, dass der Roman schon mehrfach verfilmt wurde und jede Generation ihre eigene Version des „Fliegenden Klassenzimmers“ im Kino anschauen konnte. Bereits kurz nach dem Erscheinen des Romans 1933 bemühte sich Kästner um eine Verfilmung bei der Ufa, aber nach der Machtergreifung der Nazis traute sich keiner an den Stoff heran. Erst 1954 kam die erste Kinoversion auf die Leinwand, für die Kästner selbst das Drehbuch schrieb und sogar als Erzähler vor der Kamera auftrat. Ihre erste Modernisierung erfuhr die Geschichte 1973 in der Verfilmung von Werner Jacobs mit Joachim Fuchsberger in der Rolle des Internatsleiters Bökh. In den Leipziger Thomaner-Chor der Nach-Wendezeit verlegte die Adaption vom Tomy Wigand das Geschehen im Jahre 2003.
Nun kommt ein weiteres Update von "Das fliegende Klassenzimmer" in die Kinos
Zum 90. Jahrestag des Kinderbuchklassikers bringt nun die in Berlin lebende schwedische Regisseurin Carolina Hellsgård ein weiteres Update ins Kino. Die wichtigste Veränderung besteht darin, dass aus Kästners männlicher Schülerriege ein mit Mädchen und Jungen gleichberechtigt besetztes Freundschaftsquartett entsteht. Aus dem fernen Berlin reist Martina (Leni Deschner) ins alpine Kirchberg, um am dortigen Internat eine Prüfung für ein Stipendium zu absolvieren. Die alleinerziehende Mutter (Jördis Triebel) arbeitet als Krankenschwester und die Familie könnte den finanziellen Zuschuss gut gebrauchen.
Der kräftige Matze (Morten Völlger), der zarte Uli (Wanja Valentin Kube) und die abenteuerlustige Zimmergenossin Jo (Lovena Börschmann Ziegler) weisen die Neue in die Gepflogenheiten ein. Wie schon in der Vorlage vor 90 Jahren tobt auch in dieser modernen Version der ewige Zwist zwischen „Internen“ und „Externen“. Auf dem Gymnasium sind die Internatsangehörigen stetigen Anfeindungen der ortsansässigen Schülerschaft ausgesetzt. Als die vier auf der Flucht vor den Feinden den Eisenbahnwaggon in einem versteckten Garten entdecken, wollen sie dort ihren Film für die Sommerabschlussfeier drehen. Der etwas eigensinnige Besitzer (Trystan Pütter), genannt der "Nichtraucher", erlaubt die Dreharbeiten für den Science-Fiction "Das fliegende Klassenzimmer", in dem sich eine irdische Schülerschar ins All katapultiert, um ferne Kulturen zu erkunden.
Die Regisseurin findet ihren eigenen Zugang zu dem Klassiker von Erich Kästner
Derweil spitzt sich an der Schule die Situation zu, als die Externen Jo entführen und das Filmmaterial an sich bringen. In dem Internatsleiter Dr. „Justus“ Bökh (Tom Schilling) haben die Kinder einen nachsichtigen und verständnisvollen Pädagogen an ihrer Seite, der als Kind selbst am Internat den Konflikt zwischen Internen und Externen erlebt hat. Über den Graben hinweg hat er eine Jugendfreundschaft entwickelt, die im Erwachsenenalter zerbrochen ist. Die Kinder versuchen den Kontakt zwischen den alten Freunden wieder herzustellen, während sie im Schulstreit nach neuen Wegen suchen.
Auch wenn zu Beginn der Erzähler aus dem Off etwas onkelhaft wirkt, der Regionalexpress durch die Berglandschaft zu pathetischen Orchesterklängen tuckert, als sei es der Hogwarts-Express, sucht und findet Hellsgård bald ihren eigenen Zugang zum Kästner-Klassiker. Die Modernisierungen bleiben moderat und verorten die alte Geschichte glaubwürdig in der Gegenwart. Dank der lebendig aufspielenden Kinderdarsteller fallen die manchmal etwas sperrigen Dialoge kaum ins Gewicht.
Nach Paul Dahlke, Joachim Fuchsberger und Urich Noethen reiht sich Tom Schilling bestens ein in die Riege "Justus"-Darsteller und stattet die Figur des sensiblen Internatsleiters, die Kästner als Gegenbild zur autoritären Pädagogik seiner Zeit entworfen hat, mit einer sanft glühenden Herzenswärme aus. Hierzu bildet der stets erfreuliche Trystan Pütter eine gute Ergänzung. Er spielt den "Nichtraucher" gleichermaßen als exzentrischen Aussteiger und klugen Beobachter, der durch die Kinder wieder in Kontakt zu seiner eigenen Vergangenheit kommt.