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Kino
Ein Hollywood-Märchen von reinstem Wasser: „Napoleon“ von Ridley Scott
Das Hollywood-Epos über Napoleon gilt als besonders gelungener Historienfilm. Der Historiker und Napoleon-Experte Thomas Schuler hat das Biopic einmal genauer unter die Lupe genommen.
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Foto: Apple TV+/dpa | Joaquin Phoenix als Napoleon in einer Szene während des Feldzugs in Ägypten.
Thomas Schuler
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:54 Uhr

Gefesselt auf einem Henkerskarren rattert die französische Königin Marie Antoinette in Paris, von einem aufgebrachten Mob beschimpft und mit Müll beworfen, zur Guillotine. Mit dieser hochdramatischen Szene beginnt der von Kritikern als „neuer Goldstandard“ gehandelte Kinofilm „Napoleon“ von Hollywood-Starregisseur Ridley Scott. Inmitten der aufgeheizten Menschenmenge steht Napoleon, gespielt von Joaquin Phoenix. Während das „Rasiermesser der Nation“ unerbittlich auf Marie Antoinette herabsaust, ist im Hintergrund ein wehendes Meer an Trikoloren zu sehen, von denen allerdings viele falsch herum aufgehängt die spätere niederländische Fahne darstellen. Leider sind dies nicht die einzigen Fauxpas des Films, der es mit historischer Authentizität so genau nimmt wie ein Schlachthof mit Vegetarismus.

Dass der echte Napoleon zum Zeitpunkt der Hinrichtung von Marie Antoinette gar nicht in Paris, sondern in Südfrankreich war, ist hierbei noch der geringfügigste Schnitzer. In der Schlacht bei den Pyramiden schlagen die französischen Kanonenkugeln mit der Sprengkraft moderner Artilleriegranaten in die Jahrtausendbauwerke ein und scheinen deren Spitzen fast zu pulverisieren, während die Rückstöße der feuernden napoleonischen Kanonen sanftweich ins Bild gesetzt sind. Zahlreiche der zu sehenden Fahnen sind falsch, indem die Requisite einfach die Fahnen der Gegenwart übernommen hat wie etwa in der Schlacht bei den Pyramiden, wo die Fahnen des Mamelukenheeres tatsächlich mit den heutigen türkischen Fahnen identisch sind, was mit der historischen Realität der Schlacht vom 21. Juli 1798 so wenig zu tun hat wie die politischen Methoden Donald Trumps mit denen Mahatma Gandhis.

Napoleon reitet in Ridley-Scott-Film in Mönchskutte

Die berühmte Dreikaiserschlacht von Austerlitz (1805) bildet einen der Höhepunkte des Historiendramas, wobei Scott ja bereits in „Gladiator“ gezeigt hat, wie bildgewaltig er Schlachten in Szene zu setzen weiß. Das kriegsentscheidende Geschehen beginnt damit, dass der Kaiser der Franzosen als einsamer, berittener Spion auf einem Maultier und in Mönchskutte (!) zur Erkundung in der Nähe der feindlichen Stellungen zu sehen ist. Hierzu ist zu sagen, dass es seinem historischen Vorbild zwar auch im dichtesten Kugelhagel tatsächlich nie an Todesmut gefehlt, er aber auch nie so doof war, sich als Oberbefehlshaber auf einem Maultier derart fahrlässig einer Gefangennahme auszusetzen. 

Welch märchenhafte Eingebung Drehbuchautor David Scarpa dann hatte, als er einen russischen Soldaten im Jahr 1805 vor der Schlacht etwas, das wie eine Zigarette aussieht, rauchen lässt, obwohl die Glimmstängel doch erst rund 50 Jahre später nach Europa kamen, und die Franzosen sich im Vorfeld der Schlacht mittels Flaggensignalen verständigen, obwohl an besagtem Vormittag bei Austerlitz dichter Nebel herrschte, kann man nur mutmaßen. An der echten Schlacht wiederum orientiert schießen die französischen Kanonen auf das Eis des zugefrorenen Satschaner Sees, während die russischen Truppen darüberfliehen. Mit einer Kameraeinstellung von unten versinken die Unglücklichen im Wasser, wobei, vermutlich überbelichtet, das reichlich im Wasser sich verteilende Blut verglichen mit echtem menschlichem Blut dann doch eine Spur zu hellrot ist. 

Die historischen Fehler im Film über Napoleon

Natürlich darf bei einem Film über Napoleon die abschließende Jahrhundertschlacht von Waterloo nicht fehlen. Hier leitet der Hauptdarsteller das Gemetzel vor seinem Zelt aus, während der echte Napoleon fast ausschließlich vor dem Gasthaus von Belle Alliance an der Brüsseler Landstraße aufgehalten hatte. Auch sind zahlreiche aufgeworfene Schützengräben und Palisaden zu sehen, von denen es bei Waterloo keine(n) einzige(n) gab. Ein neben Wellington auf dem Pferd sitzender Scharfschütze bittet seinen Feldherrn um die Erlaubnis, auf den Kaiser schießen zu dürfen. Tatsächlich ist diese Szene ein zu eins aus der Waterloo-Verfilmung von Sergej Bondartschuk aus dem Jahr 1970 geklaut (wo sie ebenfalls frei erfunden ist).

Anders als bei der über 50 Jahre alten cineastischen Kopiervorlage feuert dann aber bei Scott der Schütze wirklich auf Napoleon und durchschießt seinen berühmten Hut, wobei der Einschuss ein fünfmal so großes Loch hinterlässt, wie es eine damalige Gewehrkugel zu verursachen imstande gewesen wäre. 

Am Ende der Schlacht lässt Hollywood es richtig krachen: Napoleon reitet den letzten verzweifelten Angriff selber mit und säbelt vom Pferd herab eigenhändig die englischen Infanteristen nieder. Wobei man sich natürlich fragen muss, wie er das mit seinem goldziseliertem Degen, den er am 18. Juni 1815 den ganzen Tag über getragen hat, gemacht haben soll?

Wie nun aber steht es im „neuen Goldstandard“ der Filmgeschichte um die großen Gefühle? Emotionaler Mittelpunkt der Handlung ist die berühmte Liebesbeziehung Napoleons mit Joséphine de Beauharnais (Vanessa Kirby). Auf der Leinwand findet die erste Begegnung nach der Terrorherrschaft Robespierres auf dem „Ball der Überlebenden“ im Sommer 1794 statt. Zwar hat es auch diesen Ball nie gegeben, und die beiden haben sich auch erst im Spätherbst 1795 kennengelernt; was aber eindeutig stimmt, ist, dass es funkt. 

War Napoleon grobschlächtig gegenüber seiner Frau?

Bei der standesamtlichen Hochzeit nennt Napoleon als sein Geburtsdatum den 28. Februar 1768; sorry, es war der 15. August 1769. Was das Kinopublikum dann zu sehen bekommt, ist der gefühlte Höhepunkt der filmischen Geschichtsfälschungen: Während in der Hochzeitsnacht Joséphine den Akt gelangweilt über sich ergehen lässt, ist Napoleon als grobschlächtiger Rammler ins Bild gesetzt.

Nun gibt es, zugegeben, über besagtes Stelldichein keine Augenzeugen oder schriftlichen Aufzeichnungen, wohl aber existieren die zahlreichen Liebesbriefe Napoleons an diese wichtigste Frau seines Lebens aus jenen Jahren. Wenn man diese Briefe liest, die wahrscheinlich mit zum Zärtlichsten, Leidenschaftlichsten und sprachlich Feinsinnigsten gehören, was ein Mann einer Frau schreiben kann („In einer Josephine zu leben, ist, im Elysium zu leben“), lässt sich daraus eben sehr wohl ableiten, dass die Liebesnacht nicht die peinliche Karnickelnummer war, als die sie hier präsentiert wird.

Zur Person: Thomas Schuler ist Historiker und Napoleon-Experte. Der Ulmer war unter anderem Fachberater für die Arte-Produktion "Napoleon und die Deutschen". Zu seinen Buchveröffentlichungen gehört der im Verlag C.H. Beck erschienene Titel "Auf Napoleons Spuren. Eine Reise durch Europa" (408 S., 26,95 €).

 
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