Herr Brusilovsky, am 9. November hat Ihre Inszenierung „Mitläufer“ am Bayerischen Staatsschauspiel Premiere. Es ist ein Rechercheprojekt, in dem die nationalsozialistische Vergangenheit des Hauses aufgearbeitet wird. Wie kam es dazu?
Noam Brusilovsky: Vor zwei Jahren habe ich ein Hörspiel zum 60-jährigen Jahrestag des Eichmann-Prozesses geschrieben. Im selben Jahr hat das Residenztheater eine Lesung mit Texten aus dem Stück „Bruder Eichmann“ von Heinar Kipphardt veranstaltet. Da war ich zur Podiumsdiskussion eingeladen und wurde gefragt, welche Form ich für eine adäquate Aufarbeitung des Holocaust halte. Ich sagte: „Schön, dass sich das Residenztheater mit Adolf Eichmann beschäftigt, aber das Residenztheater hat sich noch nie mit seiner eigenen Geschichte auseinandergesetzt. Und bevor man sich mit Dingen außerhalb des Theaters beschäftigt, sollte man sich erst auf die Dinge innerhalb des Theaters konzentrieren.“ So kamen wir ins Gespräch für dieses Rechercheprojekt.
Mit welchen Fragen haben Sie sich für ihre Recherche nun beschäftigt?
Brusilovsky: Wir haben uns in erster Linie auf die Täterfiguren konzentriert, nämlich auf die zwei Intendanten Oskar Walleck und Alexander Golling und den Chefdramaturgen Curt Langenbeck. Wir haben versucht, uns in sie hineinzudenken, und gefragt: Wie kann es passieren, dass man sich in dieser Zeit entscheidet, ein Theater zu leiten? Wie profitiert man davon, welche opportunistischen Gedanken hat man im Kopf und welche Rolle spielt die große Liebe zum Theater, dass man bereit ist, dafür alle moralischen Maßstäbe zu vergessen? Wir haben versucht, uns diesen Figuren anzunähern, ohne Nazimonster auf der Bühne darzustellen. Im Fokus stand unsere Perspektive als Theaterschaffende: Das könnte auch uns als Theatermacher*innen passieren, wenn wir jetzt einen Regierungswechsel hätten. Und dass das in absehbarer Zeit passieren könnte, davor habe ich persönlich sehr große Angst.
Also dieser auch von Gustaf Gründgens bekannte Konflikt, den Klaus Mann in seinem Roman „Mephisto“ beschreibt: auf der einen Seite die Leidenschaft für die Bühne und auf der anderen Seite ein System, dem man dafür dienen muss.
Brusilovsky: Ja, und im Gegensatz zu Gründgens haben wir hier zwei Figuren, die sehr früh Parteimitglieder waren. Oskar Walleck wurde schon 1932 SS-Mitglied, hat sich in der Presse als großer nationalsozialistischer Intendant feiern lassen und nach dem Krieg behauptet, dass er Widerstand gegen das nationalsozialistische System geleistet hätte. Alle Ensemblemitglieder haben das bestätigt und es gab sogar Juden, die ausgesagt haben, dass er sie gerettet hat.
Wie erklären Sie sich diese Zustimmung?
Brusilovsky: Es gab viele Mechanismen von Abhängigkeit, viele hatten ihm etwas zu verdanken. Aber was in den Archiven steht, ist keine Wahrheit, es ist nicht überprüfbar, sondern das sind Erzählungen. Als Ensemble mussten wir uns zu diesen Geschichten positionieren und uns fragen, was wir für glaubwürdig halten und was nicht.
Wie bringen Sie dies nun in einer Theaterinszenierung auf die Bühne?
Brusilovsky: Wir spielen auf verschiedenen Zeitebenen. Wir sind in der Nachkriegszeit, als die Spruchkammerverfahren stattfanden, in denen Walleck und Golling zur Rechenschaft gezogen wurden. Und wir springen zurück in die Jahre des Nationalsozialismus. Dazu gibt es eine weitere Figur, die Tochter von Alexander Golling, die von seiner tatsächlichen Tochter Claudia Golling gespielt wird. Sie erzählt von der Komplexität, einen „hervorragenden“ Vater gehabt zu haben und gleichzeitig zu wissen, dass er ein Verbrecher ist.
Ambivalenz spielt also in Ihrer Inszenierung eine große Rolle.
Brusilovsky: Ja, wir spielen in einer Grauzone, in der wir nicht wissen, ob es gute Figuren sind oder schlechte. Es gibt Vorgänge, die zu verurteilen sind, und Verbrecher sind die damals Verantwortlichen auf jeden Fall. Aber es wäre zu einfach, die Dinge nur in dieser Hinsicht zu deuten. Als Regisseur sehe ich mich nicht in einer Richterfunktion. Das überlasse ich dem Publikum.
Welche Rolle spielt in der Inszenierung die Tatsache, dass Sie selbst Jude sind?
Brusilovsky: Eine sehr geringe. Es erschwert für mich die Sache eher, denn ich beschäftige mich mit einer Vergangenheit, die nicht meine ist, weil ich keine deutsche Familiengeschichte habe. Die Stärke meiner Position liegt nicht darin, dass ich Israeli bin, sondern, dass ich Theatermacher bin. Ich erzähle auf der Bühne von der Theaterwelt, die ich wiederum sehr gut kenne. Die Täter waren auch Intendanten, Schauspieler, Regisseure. Und sie waren hier an diesem Theater, an dem wir jetzt spielen.
Was bedeutete das für das Team?
Brusilovsky: Wir mussten viel über das heutige Theater und seine Strukturen sprechen. Inwiefern Schauspieler heutzutage die Freiheit haben, sich für Rollen zu entscheiden, inwiefern man einem System ausgeliefert ist, in dem ein Intendant von heute auf morgen nicht mehr da ist und man den Job verliert. Was es bedeutet, Stoffe zu spielen, die man ungern spielt. Es war also auch eine große Auseinandersetzung mit dem, was es bedeutet, Theater zu machen.
In „Mitläufer“ geht es auch darum, wie man Haltung beziehen kann in schwierigen Zeiten, wie man sich positioniert. Eine Frage, die sich in Deutschland angesichts des Krieges im Nahen Osten gerade wieder sehr aktuell stellt.
Brusilovsky: Ich bin in einer Lage, in der ich als Israeli und Mensch, der Familie in Israel hat, nur mein Entsetzen über die Bilder, die uns erreicht haben, äußern kann. Ich sehe die Bilder der Geiseln, ich sehe die Bilder der Toten des Massakers am 7. Oktober und ich sehe andererseits den großen Verlust und die Bombardierungen im Gazastreifen und ich habe starke Zweifel, dass dies Frieden im Nahen Osten bringen wird. Ich wünsche mir eine langfristige Lösung, in der diese zwei Völker nebeneinander und miteinander existieren können. Sich solidarisch mit einer Seite zu zeigen, sich in einer Richtung zu positionieren, ist nicht das Richtige.
Haben Sie deshalb einen offenen Brief von jüdischen Künstlern und Künstlerinnen unterzeichnet, der sich für die Demonstrationen der Palästinenser ausspricht?
Brusilovsky: Genau. Ich kann keine palästinensische Demonstration unterstützen, in der gerufen wird „From the river to the sea, Palestine will be free“, ein Satz, der impliziert, dass meine Familie vernichtet werden soll. Gleichzeitig leben wir in einer demokratischen Gesellschaft und ich glaube, dass auch dem Schmerz von Palästinensern, deren Familien und Freunde von diesem Krieg betroffen sind, Raum gegeben werden muss. Wenn man diesen Schmerz nicht zulässt, wird er sich auf andere Art und Weise äußern und manifestieren, zum Beispiel in antisemitischen Vorfällen. Ich habe Angst, dass das am Ende nur in eine stärkere Gewalt gegen Jüdinnen und Juden mündet. Und dass wir den Konflikt aus dem Nahen Osten nach Europa exportieren.
Ist Ihre Inszenierung nun unfreiwillig zu einem Kommentar zu dieser Situation geworden?
Brusilovsky: Nein, das Stück kann man nicht in dieser Hinsicht lesen. Aber eingeflossen ist der Schmerz, den wir während der Proben über die aktuellen Ereignisse empfunden haben. Die Proben waren für mich furchtbar. Ab dem 7. Oktober ist die Stimmung gekippt. Es war für mich ein extremer Kraftakt, diese Produktion unter diesen Umständen auf die Bühne zu bringen.