Herr Schmidbauer, die Heimkehr aus dem Krieg, Gefangenschaft und Flucht sind in den letzten Jahren nicht nur in der Literatur wieder vermehrt aufgegriffen worden. Weshalb gerade jetzt?
Wolfgang Schmidbauer: Manchmal denke ich, dass die Zerfallserscheinungen des Friedens in Europa eine Rolle spielen: der Brexit, die Bewegungen gegen die EU, der Ukraine-Krieg. Aber Erinnerungen können wir oft besser ausspinnen, wenn uns die Lebenden nicht mehr stören. Unmittelbar nach dem Krieg war die Verdrängung ausgeprägt. Man hat nur nach vorn geschaut, und letztlich war die Traumatisierung so universell, dass sie gar nicht aufgefallen ist. Das war ja alles „normal“, und bis in die 1970er-Jahre hinein gab es einen breiten Konsens, die Sache ruhen zu lassen.
Auch in Ihrer Familie?
Schmidbauer: Wenn ich meine Mutter nach der Nazizeit gefragt habe, sagte sie: „Das kann sich niemand vorstellen, der nicht dabei war.“ Sie hat uns als Kindern von griechischen Mythen und Homer erzählt – da habe ich gedacht: Du hast mir doch immer vom Trojanischen Krieg erzählt, warst du da dabei?
Kam erschwerend hinzu, dass Ihr Vater 1944 gefallen ist?
Schmidbauer: Auch. Mich hat das wieder sehr beschäftigt, als der Krieg in der Ukraine begann. Mein Vater ist dort gefallen, ein russischer Scharfschütze hat auf ihn gezielt. Sich vorzustellen, was da jetzt passiert, was zum Teil dem hoch traumatisierenden Stellungskrieg von 1914 bis 1918 gleicht, macht mir Sorgen für den seelischen Zustand beider Nationen. Und durchaus auch in den nächsten Generationen.
Hatten Sie Kriegsheimkehrer in der Therapie?
Schmidbauer: Nein, erst deren Kinder. Aber ich habe einen Kriegsheimkehrer in der Familie erlebt. Mir ist erst in meiner Zeit als Therapeut klar geworden, dass mein Großvater im Ersten Weltkrieg eine absolute Persönlichkeitsveränderung durchgemacht hatte, die sich auf die Generation meiner Mutter auswirkte und vor allem ihre erstgeborene Schwester traumatisierte. Die Begeisterung für den Nationalsozialismus hing mit diesen Traumatisierungen zusammen: Sie werden durch Selbstüberschätzung manisch abgewehrt.
Bei den Nazis haben die Teilnehmer am Ersten Weltkrieg eine wichtige Rolle gespielt.
Schmidbauer: Und gerade unter den Nazis waren viele traumatisierte Leute. Die Gnadenlosigkeit, die Bereitschaft, bis zum Äußersten zu gehen, zu morden, um die Vision eines „reinen germanischen Vaterlands“ umzusetzen, hängt damit zusammen. Die Faschisten wurden in Italien „trincerocratia“ genannt, das waren diejenigen, die aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs die Macht übernommen haben.
Diese Gnadenlosigkeit war 1945 ja nicht einfach weg.
Schmidbauer: Die Kinder litten unter der Unberechenbarkeit und aggressiven Willkür ihrer Väter. Ein Patient erzählte mir zum Beispiel, dass er in den 60er-Jahren als Jugendlicher mit einem neuen Mantel nach Hause kam. Der Vater riss ihm den Pelzkragen weg und steckte ihn in den Ofen. Wir haben dann gemeinsam versucht, die Ursache zu rekonstruieren: Der Vater war in Sibirien und hat mit den Pelzkrägen der russischen Soldaten negative Erinnerungen verbunden.
Und dann freut sich der eigene Sohn einfach über einen neuen Mantel.
Schmidbauer: Das Unbeschwerte, das Glücklichsein gerade von Kindern ist etwas, das Traumatisierten schwerfällt auszuhalten. Zumal der Krieg diesen Menschen die Jugend und jede Leichtigkeit genommen hat. Man sorgt sich um Kinder, die naiv und fröhlich sind, und sieht zu, dass sie ernster werden und bedenken, was alles schiefgehen kann. Meine Großmutter sagte immer: „Die Vögel, die in der Früh am hellsten singen, frisst am Abend die Katze.“ Als Kind dachte ich mir, die Erwachsenen haben einfach keine Ahnung, was Spaß macht. Und wenn man sich an etwas freut, muss man das heimlich tun.
Viele aus der Kriegsgeneration haben nie gelernt, über sich und ihre Erlebnisse zu sprechen.
Schmidbauer: Sie wollten ihre Kinder aus den gescheiterten Illusionen und ihren seelischen Verletzungen heraushalten und als Eltern funktionieren. Das hat natürlich zu großer Distanz und wenig Geborgenheit geführt. Andere haben aber zu viel gesprochen und die Kinder dadurch belastet, dass sie ständig Aufmerksamkeit für ihr schweres Schicksal forderten.
War das Wirtschaftswunder letztlich eine Form der Kompensation?
Schmidbauer: Das wurde von den Leuten getragen, die traumatisiert waren, ja. Doch es konnte die folgende Generation nicht überzeugen. Die 68er-Bewegung meinte, man muss die Welt verbessern und eine neue Gesellschaft kreieren, indem man das Politische und das Persönliche verbindet. Das wurde schließlich für deren Kinder zum Problem.
Wie hat sich das geäußert?
Schmidbauer: Ideologie ist kein Ersatz für Empathie. Diese Gefahr besteht bei einer ideologischen Erziehung immer. Auch das Antiautoritäre hat dazu geführt, dass Eltern die Grenzen der Belastbarkeit ihrer Kinder überschritten und sie zu wenig in ihren Bedürfnissen respektiert haben. Das Erziehungsmuster der autoritären Generation war überschaubar, während die 68er-Eltern für ihre Kinder oft ganz unberechenbar wurden. Und die Kinder sollten so sein, wie es sich die Eltern vorgestellt haben: die richtigen Ideen verfolgen, den richtigen Umgang mit Aggression. Sie sollten ihre Eltern gut finden und als Vorbilder akzeptieren. Die so proklamierte Freiheit ging nur in eine Richtung.
Mittlerweile haben die Achtundsechziger Enkel, die sie kaum noch einordnen können und die hin- und hergerissen sind zwischen iPhone und Konsumverzicht.
Schmidbauer: Zu dieser internetgeprägten Kultur gehört die Gleichzeitigkeit von allem. Alles ist da, es gibt keine klaren Prägungen mehr. Die Achtundsechziger sind die letzte Generation, die von einer grundlegenden Sache wie dem Zweiten Weltkrieg beeinflusst wurde. Mittlerweile gibt es viele Generationen, X, Y, Z … Wir haben es mit einer hochgradigen Unübersichtlichkeit zu tun.
War die Wende die Zäsur?
Schmidbauer: 1989 ist es zunächst in Deutschland unübersichtlich geworden, die Blöcke sind verschwunden. Die primäre Reaktion auf Unübersichtlichkeit ist Angst. Deshalb versucht man zu vereinfachen. Mir fällt auf, dass inzwischen sehr schnell und extrem moralisiert wird. Natürlich ist es schwerer geworden abzuwägen und zu differenzieren. Insofern gibt das Markendenken auch Halt.
Selbst große Aufreger haben eine verblüffend geringe Halbwertszeit.
Schmidbauer: Die Eventkultur hat das Verfolgen langfristiger Projekte abgelöst. Es gibt einen Event, der alle bewegt, einen Hype, und das ist dann auch wieder vorbei. Mir scheint, die 68er-Bewegung war die letzte, welche die ganze Gesellschaft in den Blick nahm und sich mit der Frage Adornos plagte, ob es das richtige Leben im falschen gibt. Heute geht es eher darum, die Umweltkrise wahrzunehmen oder sie populistisch zu leugnen. Im Grunde geht es um Überlebensfragen, nicht mehr um die Frage nach einer gerechten Gesellschaft.
In den Nachbarländern mokiert man sich gerne über die überernsten Deutschen mit ihrem eher verdrucksten Selbstwertgefühl.
Schmidbauer: Durch Auschwitz und den verlorenen Krieg ist das Selbstwertgefühl der Deutschen sicher bleibend belastet. Es ist für jede Nation kränkend, einen Krieg zu verlieren; in Deutschland müssen wir mit dem Gedanken leben, dass es gut und gerecht war, verloren zu haben. Das enthält eine Chance für ein gelassenes, reifes Nationalgefühl, das Schattenseiten nicht verleugnet, sondern erinnert und erträgt. Ich war in den 90er-Jahren überrascht, als ein triumphales Nationalgefühl wieder selbstverständlich wurde. Das fing im Sport an und hat sich ausgebreitet. Denken Sie an den Tod von Franz Beckenbauer. Noch kurz davor wurde vor allem über die Korruptionsaffäre gesprochen und vom Absturz der Lichtgestalt – und plötzlich war sie wieder makellos. Im Erzählen solcher Geschichten unterscheiden sich die Deutschen nicht mehr von ihren Nachbarn.
Ist ein generationenübergreifendes Trauma überhaupt zu bewältigen?
Schmidbauer: Bewältigen ist das falsche Wort – wir sind nicht stärker als unsere Traumata, wir können sie nicht ungeschehen machen, aber wir können sie akzeptieren, wir können Ängste und Einschränkungen überwinden, die sie ausgelöst haben. Wer lebt, muss sich mit dem Trauma von Leid und Tod auseinandersetzen, es gibt kein Leben ohne Trauma, aber es gibt menschliche Wärme und Empathie, die unsere Gegenwart prägen dürfen, auch wenn sie in der Vergangenheit gefehlt haben.