Joachim Kühn, herzlichen Glückwunsch zu Ihrem 80. Geburtstag! Wie fühlt sich das an?
Joachim Kühn: (zögert einige Sekunden) … Scheiße! Du weißt an so einem Tag definitiv, dass deine letzten Jahre begonnen haben. Ein bisschen hilft es, wenn ich mir meinen Bruder Rolf als Vorbild nehme, der es ja bis 92 geschafft hat, aber leider im August 2022 sterben musste. Mensch, 92, das wäre schon okay! Dennoch weiß niemand, wie das Schicksal zuschlägt. Aber im Moment funktioniert alles bei mir, ich habe nach wie vor die Power, die man braucht, um zu spielen. Ehrlich gesagt, geht es mir im Moment so gut wie selten. Aber eines steht schon länger fest: Eine Feier zum 80. gibt es definitiv nicht!
Sie leben gerne und sind nach wie vor produktiv, können inzwischen aus der Fülle der Erfahrungen schöpfen und konzentrieren sich ganz auf die Gegenwart, auf den Moment.
Kühn: Mein Tagesablauf dreht sich komplett die Musik. Ich arbeite hier in meinem Studio, komponiere, improvisiere. Augenblicklich arrangiere ich einige neue Stücke für Klavier. Ich bin produktiver denn je.
Im Februar 2023 haben Sie offiziell das Ende Ihrer Karriere als Konzertpianist erklärt. Warum?
Kühn: Konzerte zu geben, wird mir allmählich zu anstrengend und zu aufwändig. Dennoch gibt es immer wieder Ausnahmen, jetzt rund um meinen 80. Geburtstag zum Beispiel, als ich hier in Ibiza und in New York aufgetreten bin. Am 7. Mai werde ich im Stuttgarter Theaterhaus spielen, am 10. Mai in der Berliner Philharmonie und am 15. Mai in der Elbphilharmonie in Hamburg, erst im Duo mit Michael Wollny und dann im Trio mit Chris Jennings und Eric Schaefer. Im Herbst kommen vielleicht noch drei oder vier weitere Termine dazu. Aber dann ist wirklich Feierabend…, es sei denn, es kommt was rein, was ich spannend finde. Aber für meine verbleibende Zeit habe ich mir eigentlich vorgenommen, nur noch aufzunehmen, Neues auszuprobieren, das zu tun, was ich will. Das hat mich schon immer am meisten interessiert. Augenblicklich habe ich gleich drei neue Platten am Start, die erste soll im August veröffentlicht werden. Ich bin ständig auf der Suche nach neuer Musik, nach neuen Musikern, mit denen ich spielen kann! Und im Laufe der kommenden Jahre möchte ich noch eine Spur freier spielen, wie dies alle großen Musiker am Ende ihres Lebens, Bach etwa oder John Coltrane, getan haben.
Feiern möchten Sie nicht, aber andere rücken Sie stattdessen ins Rampenlicht. So erhalten Sie am 12. April vom deutschen Botschafter in Paris das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, das Ihnen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verleiht.
Kühn: Hat mich schon ein bisschen überrascht, die Nachricht. Ich werte das als Anerkennung, und in Deutschland Anerkennung zu finden, ist ja gar nicht ganz leicht. Aber es freut mich wirklich! Der Bundespräsident war 2019 bei der Premiere von „Brüder Kühn“, dem Film, den Stephan Lamby über Rolf und mich gedreht hat, zu Gast. Vielleicht hat ihm der ja gefallen. Aber wenn man mit 80 so eine Auszeichnung bekommt, dann bedeutet das auch, dass du ein alter Knochen geworden bist! Alte-Männer-Musik will ich aber nie machen, dafür bin ich noch viel zu neugierig.
Deswegen spielen Sie auch gerne mit jüngeren Kollegen, wie im Januar 2023 in Frankfurt mit dem Pianisten Michael Wollny auf zwei Flügeln. Das Konzert wurde jetzt unter dem simplen Titel „Duo“ veröffentlicht. Ist Wollny so etwas wie Ihr Alter Ego?
Kühn: Kann man vielleicht so sagen. Michael hat mein „Diminished Augmented System“, das von mir entwickelte Harmoniekonzept, genau studiert und auch seine Abschlussarbeit an der Uni darüber geschrieben. Er könnte exakt so spielen wie ich, aber er tut es nicht – zum Glück! Weil er längst seinen eigenen Weg geht und dadurch einer der bekanntesten und erfolgreichsten Pianisten Europas geworden ist, mit einer völlig eigenen Tonsprache, die man auf Anhieb erkennt. Das Besondere an diesem Duo ist, dass jeder von uns klar identifizierbar bleibt und es dennoch eine Einheit ist. So etwas kann man nicht mit jedem machen. Zwei Pianos – normalerweise ist das eine Überdosis. Ich mag dieses Durcheinander-Geklimper überhaupt nicht, aber mit Michael war das nie so. Er ist ja ein Supertyp, und wenn es menschlich klappt, dann kann man auch gut miteinander spielen.
Sie habe sich vor über drei Jahrzehnten nach Ibiza zurückgezogen. Sind Sie froh darum, angesichts der aktuellen politischen Situation in Deutschland und in Europa?
Kühn: Was da gerade passiert, ist wirklich eine Katastrophe! Ende der 1960er-Jahre hatte ich noch die Hoffnung, dass die Menschen endlich verstanden haben, worauf es ankommt und dass sich Dinge wie das Dritte Reich nicht wiederholen dürfen. Die Aufbruchsstimmung damals war tatsächlich fantastisch, alles schien sich zum Besseren zu entwickeln. Aber das hat nicht lange angehalten. Jeder, der wie ich in der DDR aufgewachsen ist, sollte eine Demokratie wirklich zu schätzen wissen. Und eine Welt ohne Kriege werde ich wohl nicht mehr erleben. Heute sieht es böser aus als je zuvor. Deshalb möchte ich mich ganz auf die Musik konzentrieren. Ich bleibe der ewige Musikstudent, der jeden Tag etwas Neues ausprobiert. Das und meine liebe Frau Renate, mit der ich seit drei Jahren glücklich verheiratet bin, sind die Dinge, die mir wirklich Freude am Leben geben!