Einen Mann, der Geschichten wie „Räuber Hotzenplotz“ oder „Der kleine Wassermann“ erzählt, zum Großvater zu haben, ist doch bestimmt etwas Besonderes. Wie haben Sie Ihren Großvater, der am 20. Oktober seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, erlebt, Herr Bitsch?
Lorenz Bitsch: Hauptsächlich als Großvater. Es hat lange gedauert, bis ich realisiert hab, dass er auch mehr ist. Und das ist ganz spannend, seit ich in der Nachlassverwaltung arbeite lerne ich ihn auch wieder neu kennen und empfinde das als ein Geschenk, dass er nicht nur der Großvater, sondern auch ein großer Autor ist. Als Kind habe ich ihn als sehr zugewandten, netten Großvater erlebt, mit dem man viele Sachen unternimmt. Wir sind in den Wald gegangen, haben Schwammerl gesammelt und oft telefoniert, weil ich ja im Bayerischen Wald aufgewachsen bin und er in der Rosenheimer Ecke gelebt hat. Und erzählt hat er natürlich auch viel. Ich weiß noch, einmal konnte er zum Geburtstag nicht kommen, da hat er angerufen und meinen Freunden und mir übers Telefon eine Geschichte erzählt.
Waren das dann die aus den Büchern bekannten Geschichten?
Bitsch: Nein, das waren nie vorgefertigte Geschichten, sondern spontan erzählte, in denen die ein oder andere bekannte Figur oder Situation vorkam, aber seine Geschichten sind immer aus dem Moment entstanden. Und er konnte sehr gut darauf eingehen, wie die Kinder reagieren. Da ist er dann schon mal in die eine oder andere Richtung abgebogen.
Und wie war dann Ihre erste Begegnung mit dem bekannten Schriftsteller Otfried Preußler?
Bitsch: Mir war natürlich schon klar, dass er Schriftsteller ist, ich wurde ja auch darauf angesprochen von Freunden, die seine Bücher schön fanden. Aber richtig bewusst wurde mir das erst, als wir uns in der Schule mit „Krabat“ beschäftigten. Da haben sich die Mitschüler umgedreht: „Echt jetzt? Dein Großvater?“ Ich war damals 14 oder 15 und wie bei den meisten Jugendlichen hat es starke Emotionen hervorgerufen. Persönlich haben wir darüber aber nie geredet.
In seinem Jugendroman „Krabat“ hat Preußler seine Erfahrung mit dem Nationalsozialismus aufgearbeitet. Er spricht selbst vom Roman seiner Generation, die verführt wurde. In zwei Biografien wird diese anfängliche Begeisterung sehr genau noch einmal beleuchtet und aufgearbeitet. Wie stehen Sie als Familie dazu?
Bitsch: Es war uns ein großes Anliegen und wir haben die Autoren mit unserem Privatarchiv auch in ihrer Arbeit unterstützt. Er hat ja nie verheimlicht, dass er dem Regime anfangs positiv gegenüberstand. Ich finde es nach wie vor beeindruckend, dass ihn niemand dazu genauer befragt hat, auch in der Familie nicht. Da ist es ein großes Verdienst von Tilman Spreckelsen und Carsten Gansel, in ihren Büchern diesen dezidierten Blick auf Kindheit und Jugend Preußlers zu werfen. Es kam einiges zutage, was viele Menschen noch nicht wussten.
Was zum Beispiel?
Bitsch: Wie es für ihn war, als Angehöriger einer deutschen Minderheit in Böhmen aufzuwachsen, wo ein extremer Nationalismus und eine große Begeisterung für das Deutsche Reich herrschte. Nicht umsonst hat sein Vater den Familiennamen ja auch von Syrowatka in den deutsch klingenden Namen Preußler, den es durch eine Vorfahrin einmal in der Familie gab, ändern lassen. Nach dem Krieg hatte er aber einen anderen Blick auf seine Heimat als es viele seiner Landsleute hatten. Die Mitgliedschaft in der Sudetendeutschen Landsmannschaft, in der ihn sein Vater angemeldet hatte, kündigte er umgehend, weil er die revanchistischen Auffassungen nicht teilte. Er hat den Blick nach vorne gerichtet und sich als Brückenbauer verstanden. Er wollte Verständigung, unternahm ausgedehnte Reisen in die damalige Tschechoslowakei, hatte dort auch viele Freunde und Kollegen, mit denen er im Austausch war. Er empfahl Verlagen auch gute tschechische Kinderbücher und übersetzte sie.
Aber noch einmal zurück in seine Jugend: 1942 ist Otfried Preußler, gleich nach dem Abitur, mit Begeisterung in den Krieg gezogen.
Bitsch: Ja, er war einfach der Ansicht, dass er auf der richtigen Seite kämpft. Der Realisierungsprozess setzte aber dann schon im Krieg ein, als er dort mit den deutschen Gräueltaten konfrontiert wurde. Ich finde es interessant, wie früh er sich schon mit Fragen wie Gefolgschaft, Verantwortung und dem Führerprinzip auseinandersetzte. Als Kriegsgefangener hat er dann im russischen Arbeitslager auch ein Theaterstück geschrieben, in dem er den verlorenen Krieg anhand einer Himalaya-Expedition thematisiert. Wochenlang wurde über dieses Stück im Lager debattiert, wissen wir aus seinen Aufzeichnungen und Briefen, die er von Mitgefangenen erhielt. Diese Aufarbeitung gipfelte Jahrzehnte später in „Krabat“, in dem er sich seiner eigenen Verführung durch Macht noch einmal stellte. Für ihn war das ein extrem fordernder Prozess, der über zehn Jahre in Anspruch nahm und ihn oft verzweifeln ließ. Er war sich nicht sicher, ob er dieses Buch zu Ende schreiben könnte. Es war ein gutes Stück Arbeit, aber das war es wert.
Und zwischendurch hat er sich auch ein wenig abgelenkt durch etwas Lustiges, da entstand „Der Räuber Hotzenplotz“, mit dem er Generationen von Kindern Freude gemacht hat. Was ist denn Ihre Preußler-Lieblingsfigur?
Bitsch: Sehr schwierige Frage, aber wenn ich mich festlegen soll, ist es die kleine Hexe. Ich mag diese anarchistischen Züge von ihr, das Rebellische, das sie an sich hat und wie sie sich gegen die Autoritäten auflehnt.
Das haben ja viele Menschen nicht so gesehen, ihm wurde in den 70er Jahren Eskapismus, die Flucht in eine heile Welt vorgeworfen.
Bitsch: Das ist ihm sehr nahe gegangen, dass die Leute von der „Verpreußlerung der Kinder“ sprachen, ihm vorwarfen, dass er Kriminalität nicht als Problem diagnostiziert, weil im „Räuber Hotzenplotz“ eine Kaffemühle geklaut und die Großmutter entführt wird. Aber das hat letztlich auch dazu geführt, dass er sich klar positioniert hat, dass er darüber nachgedacht hat, wie man seine Texte und sein Schreiben auch theoretisch fassbar machen kann. Er hat für sich daraus den Schluss gezogen, dass es so etwas wie ein Recht auf Kindheit gibt und es ein Vergehen ist, wenn man das nicht respektiert. Man darf nicht Kinder mit Problemen beladen, die sie nicht lösen können. Das überfordert Kinder, sie haben eigene Entwicklungsschritte, die sie bewältigen müssen. Und ernsthafte Themen, die im Horizont eines Kindes liegen, die stecken ja alle auch neben dem Spaß und der Unterhaltung drin, etwa die Erkundung der Welt, die Selbstbehauptung, das Miteinander mit Freunden und Familie.
Da kann sich Otfried Preußler mit seinen Büchern ja auch gut im Meer der vielen Neuerscheinungen behaupten, auch ohne coole Jugendsprache, Smartphones oder Internet.
Bitsch: Ja, es ist eine ganz andere Welt, die gezeichnet wird, die aber auch nicht die Gesellschaft der 50er und 60er Jahre widerspiegelt. Mein Großvater kreierte eigene Welten wie etwa den Mühlenweiher im „Kleinen Wassermann“. Es gibt darin viele Elemente, die die Kinder gut kennen, in denen sie sich auch gut zurechtfinden können, und gleichzeitig sind diese Welten fantastisch oder mega-skurril und es macht Kindern Spaß, sich darin zu verlieren. So konnten die Bücher ihre Zeit überdauern. Und ich habe das Gefühl, dass gerade in diesen digitalen schnellen Zeiten ein analoges Preußler-Buch ein Ruhepol ist. Dass das auch in seinem hundertsten Lebensjahr noch so ist, und dass Menschen mir erzählen, wie sehr sie „Die kleine Hexe“ geliebt haben und wie sie „Krabat“ beeindruckt hat, bringt meine Augen manchmal zum Blinzeln.