2023 war ein Jahr heftig geführter Debatten auch im Kulturbereich – zum Ende hin war das große Thema der Umgang mit dem Antisemitismus. Wie verhält es sich damit im Kulturbetrieb?
Olaf Zimmermann: Wenn wir ehrlich sind, hat das nicht 2023 begonnen, sondern schon ein Jahr zuvor mit der Documenta. Das hat sich, ich sag's offen, unheimlich fortgesetzt. Im Kulturbereich hatten einige Schwierigkeiten, sich beim Thema Antisemitismus klar zu äußern. Viele Jüdinnen und Juden äußern mit Recht Kritik an uns, weil sie mehr Klarheit aus dem Kulturbereich erwartet haben.
Woher rührt diese Stille? Beim Ausbruch des Ukrainekriegs war das anders, da gab es eine große Welle öffentlicher Solidarität gerade auch aus dem Kulturbereich.
Zimmermann: Bis heute laufen viele Solidaritätsprojekte etwa mit Künstlerinnen und Künstlern aus der Ukraine. Im Gegensatz zu den vielen Ukraine-Fahnen sieht man viel weniger Israel-Fahnen an Kultureinrichtungen hängen. Das hängt damit zusammen, dass im Kulturbereich seit Jahren eine heftige Debatte über den Umgang mit dem Post-Kolonialismus stattfindet. Dort hat sich der Irrtum festgesetzt, dass Israel eines der kolonialistischen Länder der Welt sei. Der Kulturbereich ist sehr international. Es geht nicht in erster Linie um deutsche Künstlerinnen und Künstler, sondern um eine internationale Sichtweise. Deswegen haben sich viele nicht getraut, das zu tun, was aus menschlichen Gründen, aus Empathie heraus notwendig gewesen wäre, klar zu sagen: Es gab einen brutalen Terror-Überfall der Hamas auf Israel. Für mich ist vollkommen klar, dass der Kulturbereich eindeutig hinter den Opfern stehen muss und nicht herumschwurbeln darf.
Wo haben Sie positive Beispiele ausgemacht?
Zimmermann: Der Deutsche Kulturrat hat sich ohne Wenn und Aber hinter Israel gestellt. Wir haben die beiden Solidaritätskundgebungen für Israel in Berlin mitorganisiert. Ich freue mich, dass immer mehr Kultureinrichtungen sich eindeutig positionieren. Es hat ein bisschen länger gedauert.
Dann möchte ich gerne zu einem weiteren Thema überleiten: Warum ist die Documenta wieder in die Schlagzeilen gekommen?
Zimmermann: Die Documenta kommt nicht aus den Schlagzeilen, weil bei dem Grundthema noch keine Klarheit geschaffen ist. Die Kunst ist frei, die Künstlerinnen und Künstler sind frei. Da sind wir die ersten, die dafür streiten und kämpfen. Das bedeutet aber nicht, dass eine Documenta, also eine mit öffentlichen Mitteln finanzierte Großausstellung, außerhalb von Recht und Gesetz handeln kann. Die Geschäftsführung einer solchen Organisation ist nicht so frei wie die Künstlerinnen und Künstler. Deren Aufgabe ist es, hinzuschauen und Verantwortung zu übernehmen.
Was müsste verbessert werden?
Zimmermann: Man müsste der Documenta eine Struktur geben, die beides hinbekommt: auf der einen Seite die Freiheit für die Künste und Künstler zu garantieren und auf der anderen Seite eine klare Verantwortungszuordnung in der Geschäftsführung festzulegen. Wir haben als Deutscher Kulturrat konkrete Vorschläge gemacht – etwa was die Trägerschaft angeht. Gerade gibt es nur zwei Gesellschafter: die Stadt Kassel und das Land Hessen. Wäre es nicht viel besser, wenn die Documenta in eine gemeinnützige Stiftung umgewandelt würde, wo die Gesellschafter dabei wären, aber auch andere wichtige Akteure aus der Gesellschaft. Damit wäre die Documenta auf ein breiteres Fundament gestellt.
Ein Thema, das 2023 ebenfalls groß war und uns in den nächsten Jahren noch viel stärker beschäftigen wird, ist die Künstliche Intelligenz. Wie wird sich diese auf den Kulturbereich auswirken?
Zimmermann: Das ist eine der größten Herausforderungen im Kulturbereich überhaupt. Wir sind das erste Mal von einer technologischen Entwicklung fundamental, direkt und unmittelbar betroffen. Die Entwicklung der Robotik in den letzten Jahrzehnten hat zu vielen Veränderungen für viele Menschen geführt, aber eigentlich nicht für den Kulturbereich. Das ist jetzt vollkommen anders. Wir haben eine Technologie, die zu einem nicht unerheblichen Teil das, was im Kulturbereich produziert wird, teilweise ergänzen oder komplett ersetzen kann. Das wird massive Auswirkungen auf unsere Arbeitsmärkte haben.
Wie und wo wird sich das bemerkbar machen?
Zimmermann: Wahrscheinlich wird es die KI lange nicht schaffen, richtig gute Gedichte zu schreiben. Aber jenseits besonderer und kleiner Bereiche der Hochkultur verhält sich das anders – etwa im Design-Bereich. Auch dort, wo Gebrauchstexte verfasst werden müssen oder wo Gebrauchsmusik komponiert wird, spielt KI eine immer größere Rolle. Der Computerspielebereich in Deutschland sagt, dass Künstliche Intelligenz die einzige Möglichkeit ist, wettbewerbsfähig zu bleiben. Für uns wird in den nächsten Jahren die zentrale Herausforderung sein, dem Ganzen einen vernünftigen Rahmen zu geben. Wie darf Künstliche Intelligenz mit Daten im Netz umgehen? Es gilt das Urheberrecht. Wir haben an die Bundesregierung appelliert, dass in diesem Bereich reguliert wird. Es kann nicht sein, dass urheberrechtlich geschützte Werke ohne Genehmigung und ohne Entlohnung genutzt werden, um die KI zu schulen. Es muss aufhören, dass die KI-Unternehmen wie Wanderheuschrecken durch das Netz ziehen und die Daten von anderen zu Geld machen.
Die Entwicklung der Technik ist rasant.
Zimmermann: Ich nutze selbst regelmäßig ChatGPT. Man kann zuschauen, wie sich das von Version zu Version verbessert hat. KI wird deshalb bald zu einem Massenphänomen werden.
Was müsste jetzt getan werden?
Zimmermann: Was wir brauchen, sind klare Lizenzierungsstrukturen. Wenn die KI unsere Werke nutzen will, damit sie so schlau und selbstständig wird, muss sie den Kulturbereich honorieren, entweder individuell oder kollektiv über eine Verwertungsgesellschaft. Der zweite Punkt ist, dass wir als Gesellschaft Rahmen setzen müssen, wie weit wir gehen wollen. Wir werden zum Beispiel klären müssen, ob Kunstwerke nur von Künstlerinnen und Künstler geschaffen werden können. Oder sagen wir, dass auch Maschinen dazu in der Lage sind. Bislang interessieren sich alle, auch unsere Bundesregierung, zu stark für die ökonomischen Chancen und zu wenig für die Risiken.
Was raten Sie Leuten aus dem Kulturbereich?
Zimmermann: Also der Kulturbereich muss der KI gegenüber offen sein und darf sich nicht als Maschinenstürmer hinstellen. Wir dürfen es aber trotzdem nicht Unternehmen wie OpenAI, Google, Meta oder Huawei überlassen, über unser Leben zu entscheiden. Wir müssen darum kämpfen, dass ein Kunstwerk nur von einem Menschen geschaffen werden kann.
2024 stehen Europawahlen und drei Landtagswahlen im Osten an. Überall vermutet man starke Ergebnisse der AfD. Wie betrachten Sie das aus kulturpolitischer Perspektive?
Zimmermann: Wir machen uns große Sorgen, dass die Rechten noch mehr Fuß fassen, als sie jetzt schon Fuß gefasst haben. Wir haben ja die Beispiele, was dann passiert, wir müssen nur in andere europäische Länder schauen, um zu sehen, was passiert – etwa in Polen, aber auch in Ungarn oder in Italien. Wenn die Rechten an die Regierung kommen, sind die ersten Bereiche, wo sie sofort ordnend eingreifen, die Medien und die Kultur.
Das heißt, die Gelder anders verteilen?
Zimmermann: Die Ausgangslage hat sich verändert. Noch vor Kurzem waren die Rechten diejenigen, die den Kulturbereich intensiv verbal bekämpft haben. Das hat sich geändert. Die Rechten sind sich so sicher, dass sie Positionen in den Kommunen und Ländern bekommen werden, dass sie dem Kulturbereich sagen: Liebe Leute, wenn wir drankommen, wird es euch besser gehen. Klar werden wir dann mal über die Leitung des Theaters und Museums und Soziokulturellen Zentrums sprechen, aber wir wollen euch kein Geld wegnehmen. Vor allem auch bei den Kommunalwahlen, die es nächstes Jahr geben wird, wird höchstwahrscheinlich ein erheblicher Teil der Verantwortungspositionen, das heißt der Landräte, der Bürgermeister, an Kandidaten der AfD gehen. Das wird auf den Kulturbereich große Auswirkung haben. Im Deutschen Kulturrat werden wir uns mit einer Sondersitzung in wenigen Wochen zum Thema Wahlen beschäftigen und darüber reden, wie wir uns positionieren. Wir nehmen das sehr ernst.
Was erwarten Sie?
Zimmermann: Da reicht ein Blick in die anderen europäischen Länder. Es wird um die Theater, Museen, Bibliotheken, die Soziokulturellen Zentren gehen, dort sollen die eigenen Leute positioniert werden. Es käme zu einer Politisierung der Kultur, die wir so nicht haben wollen.
Das klingt jetzt nach einem düsteren Ausblick für das Jahr 2024. Wo entdecken Sie etwas Positives?
Zimmermann: Wir als Deutscher Kulturrat haben auch nach den Erfahrungen mit der Corona-Pandemie Mindesthonorare für freiberufliche Künstlerinnen und Künstler gefordert. Dafür sind 2023 die politischen Pflöcke eingeschlagen worden, sie werden 2024 in fast allen Ländern und auch auf der Bundesebene kommen. Das ist doch eine wirklich gute Nachricht!