Herr Oschmann, Sie kommen aus Thüringen und arbeiten in Leipzig. Sind Sie "Ossi"?Wie blicken wir 32 Jahre nach Wiedervereinigung auf den Osten?Deutsche Einheit
Dirk Oschmann: Das ist kein Begriff, mit dem ich mich selber beschreibe. Für mich ist es beispielsweise eine wichtigere Zuschreibung, dass ich beim Fußballspielen Linksfüßler bin. Es kommt immer darauf an, in welchem Zusammenhang man sich verortet. So ein Begriff ist keiner, mit dem ich arbeite. In meinem Buch verwende ich weder das Wort "Ossi" noch "Wessi". Beide Begriffe sind für mich indiskutabel und diffamierend.
Sie sind Sprachwissenschaftler, da ist Ihnen die Macht der Worte wohlbekannt. Was macht ein solcher Begriff?
Oschmann: Zunächst: Ich bin Literaturwissenschaftler und habe also auf andere Weise unablässig mit Sprache zu tun. Der ganze semantische Raum, der mit der Vorsilbe "Ost-" zusammenhängt, ist mit negativen Zuschreibungen kontaminiert. Wir sollten die Dinge genauer und konkreter betrachten. Wir sollten lieber sagen, jemand kommt aus Thüringen, Bayern oder dem Saarland, als aus dem Westen oder Osten.
Seit Wochen hält sich Ihr Buch in den Bestsellerlisten, beim Spiegel hat es jüngst wieder Platz eins erobert. Wie fühlt sich dieser Erfolg an?
Oschmann: So eine große Resonanz und Aufmerksamkeit hätte ich mir nicht vorstellen können. Es fühlt sich schön an, aber nach wie vor fremd. Ich muss mich noch mit der Rolle, jetzt eine öffentliche Person zu sein, zurechtfinden.
Als Literaturprofessor ist es ja auch nicht das Naheliegendste, einen solchen Erfolg zu landen. Liegt es an dem scharfen Ton, den Sie im Buch verwenden und besonders "den Westen" direkt angreifen?
Oschmann: Ich habe schon geahnt, dass es einen gewissen Wirbel geben könnte. Vor zwei Jahren habe ich einen Vortrag zu diesem Thema gehalten, auch damals folgten emotionale Debatten. Mit dem Buch jetzt sind es aber ganz andere Dimensionen, die ich so auch nicht absehen konnte.
Sie polarisieren. Sind die Reaktionen im Osten anders als die im Westen?
Oschmann: Es gibt sehr viel mehr Reaktionen aus dem Osten. Im Westen wächst das Interesse momentan erst noch. Die Reaktionen aus dem Osten sind wesentlich umfangreicher, dort erzählen mir Menschen vielfach ihre Lebensgeschichte und stimmen meinen Thesen oft zu, aus dem Westen habe ich schon mehrfach Freude über die pointierte Darstellung gehört. Kritische Stimmen gibt es natürlich auch, und zwar von überall.
Wer war denn besonders kritisch?
Oschmann: Interessant ist, dass besonders jüngere Menschen aus dem Osten kritisch sind. Also diejenigen, die die DDR nicht mehr selbst als Erwachsene wahrgenommen haben, sondern in der schwierigen Transformationsphase der 90er Jahre aufgewachsen sind. Viele glauben, sich mit den im Buch beschriebenen Problemen nicht mehr befassen zu müssen oder fühlen sich an etwas erinnert, was sie glaubten, hinter sich gelassen zu haben.
Und Sie denken, die Probleme sind noch da?
Oschmann: Die Asymmetrie zwischen Ost und West ist nach wie vor riesig, wenn man sich etwa, um nur drei Dinge zu nennen, die extremen Lohnunterschiede ansieht, den eklatanten Mangel an Repräsentation oder den Mangel an Führungskräften aus dem Osten. Wo wir also schon über Probleme von früher hinaus gekommen sein sollen, habe ich noch nicht verstanden.
Im Buch stellen Sie die These auf, der Westen lege Menschen aus dem Osten eine Ost-Identität auf. Was meinen Sie damit?
Oschmann: Seit Jahrzehnten zeigen sich in der westdeutschen Darstellung des Ostens bestimmte Stereotype. Das kommt von Medien, aber auch im öffentlichen Diskurs. Menschen aus Ostdeutschland werden oft als "dumm", "zurückgeblieben" oder "faul" bezeichnet und auf diese Aufladungen reduziert. Da müssen Sie nur mal in eine Satiresendung sehen, die von westdeutschen Medien für ein westdeutsches Publikum gemacht wird. Das kann dann lachen, während das ostdeutsche Publikum mal wieder in die Pfanne gehauen wird.
Sie sprechen in diesem Zuge oft vom normierenden Westen.
Oschmann: Der Westen begreift sich als Norm, der vorgibt, was als normal gilt. Der Osten und seine womöglich abweichenden Perspektiven werden nicht akzeptiert. Wenn dort etwas anders gesehen wird, Dinge anders gemacht werden, dann stempelt der Westen diese als kurios, inakzeptabel oder prinzipiell "unnormal" ab.
Ist Ihr Buch also weniger eine Zustandsbeschreibung Ostdeutschlands, als vielmehr ein Appell an den Westen, endlich sensibler zu werden?
Oschmann: Ja, das kann man so sagen. Es ist vor allem ein Buch darüber, wie sich der Westen den Osten denkt und welche gesellschaftlichen Effekte das erzeugt. Das Reden zwischen Ost und West muss sich ändern. Und letztlich muss auch diese binäre Idiotie der zwei Begriffe enden. Ich weiß aber auch, dass ich mich bisher noch dieses Ost-West-Schemas bediene. Das ist aus der Not geboren, weil es momentan leider noch keine andere Lösung gibt, um bestimmte Missstände ins Bewusstsein zu heben. Wir müssen einfach anders miteinander umgehen. Im Privaten klappt das auch schon in vielen Fällen.
Und wo nicht?
Oschmann: Auf kollektiver Ebene. Privat lernen sich die Menschen aus Ost und West kennen, spielen zum Beispiel im selben Sportverein oder heiraten. So bauen wir Vorurteile ab. Das gibt es schon in vielen Fällen. Die Frage ist, wieso es insgesamt aber nicht funktioniert. Warum der öffentliche Diskurs so festgefahren ist, dass jemand wie Mathias Döpfner solche schrecklichen Dinge über Ostdeutsche sagen kann und dafür in vielen Fällen auch noch Zustimmung erhält. Im Grunde hat er als Springer-Chef den konservativen Westen – den Mainstream – vertreten.
Was also tun, um unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken?
Oschmann: Wir müssen mehr Rücksicht und Respekt einfordern. Das ist die diskursive Ebene. Die andere betrifft die sozialökonomische Benachteiligung. Damit meine ich den Mangel an Mitgestaltungsmöglichkeiten, an Repräsentation, an Gleichberechtigung. Es geht nicht um blühende Landschaften, das ist eine absurde Vorstellung. Es geht um eine Gesellschaft der Chancengleichheit im Osten, denn die Lebenschancen hier sind einfach signifikant geringer. Diese Ungleichheit ist für unsere Demokratie ein Riesenproblem.
Sie sprechen von mehr Sensibilität, in Ihrem Buch sagen Sie aber offen, selbst bewusst auf Differenzierung verzichtet zu haben und mit Begriffen wie Ost und West zu vereinfachen. Verschärfen sie mit diesem provozierenden Ton die Konfliktlinien nicht sogar?
Oschmann: Das kann man denken, aber ich sehe doch, dass das Gegenteil eingetreten ist. Der Ton in meinem Buch hat natürlich eine enorme Schärfe, aber damit verfolge ich einen strategischen Zweck. Denn es gibt schon seit Jahren umfassende Studien zur Ungleichheit zwischen Ost und West. Aber sie haben für die Probleme keine hinreichende Resonanz erfahren, die Differenzierung hat vielleicht den Eindruck hinterlassen, es sei alles halb so schlimm und man selbst könne ohnehin gar nichts tun. Ich habe deshalb bewusst darauf verzichtet und einfach mal so undifferenziert über den Westen geredet, wie der Westen seit mehr als 30 Jahren undifferenziert über den Osten redet. Um vorzuführen, wie das funktioniert, wie es sich anfühlt und zu zeigen, dass der Westen eine große Mitverantwortung am Auseinanderfallen des Landes hat. Durch die Debatten im Zuge des Buches würde ich mir zugestehen, dass diese Idee funktioniert.
Sie plädieren unter anderem für eine Ostquote in Führungspositionen. Wenn also ein Manager aus Cottbus durch die Quote nach Augsburg kommt – erhöht das die gesellschaftliche Akzeptanz im Westen?
Oschmann: Aus meiner Sicht ist eine Quote das einzig harte politische Instrument, um etwas zu verändern. Denn jetzt sind die Ausschlussmechanismen für Menschen aus dem Osten zu groß. Sie haben das Gefühl, nicht mitmachen zu dürfen, nicht mitgemeint zu sein, und dann drehen einige der Demokratie den Rücken zu. Natürlich würden Menschen durch die Quote am Anfang unter besonderem Beweisdruck stehen. Aber vergleichbar mit der Frauenquote brauchen wir einen Stoß, um den Stein ins Rollen zu bringen.
Was halten Sie von der Idee einer Regionalquote? Damit würden erst mal die Führungspositionen im Osten heimisch besetzt werden, und mit etwas Glück entsteht daraus ein Selbstbewusstsein, dass Ostdeutsche künftig ganz organisch in den Westen schwappen?
Oschmann: Diese Idee leuchtet mir durchaus ein. Gerade für solche Spezifizierungen bin ich sehr offen. Denn ein solches Selbstbewusstsein muss erst mal geschaffen werden, um für nachfolgende Generationen Vorbilder zu schaffen.
Dass Ost und West mehr zusammenarbeiten müssen, kommt Ihrer Einschätzung nach uns allen zugute?
Oschmann: Ja, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt müssen wir alle anpacken, damit unsere Demokratie nicht weiter in Gefahr gerät. Und sie ist in Gefahr, so wie andere Demokratien auch. Da muss man nur nach Österreich blicken, nach Ungarn, in die USA oder die Türkei. Egal wo, die Demokratien stehen unter Druck und sie müssen deshalb an sich arbeiten. Denn die globalen Verhältnisse verändern sich immerzu, deshalb müssen das auch wir in der Demokratie gemeinsam tun. Demokratien sind nicht fertige Staatsgebilde, sondern müssen unablässig an sich arbeiten, um wirkliche Demokratien bleiben zu können.