Sie gelten als Vertreterin der Autofiktion, bei der autobiografische Elemente und Erfindung vermischt werden. Wie viel Camille Laurens steckt in Ihren Geschichten?
Camille Laurens: In Frankreich wird Autofiktion oft abwertend betrachtet, deshalb lehnen viele Autorinnen und Autoren dieses Etikett ab. Manche verbinden es mit einer Art narzisstischem Bekenntnis, dem Erzählen unbedeutender, kleiner Geschichten. Oft wird die Kritik mit Frauen assoziiert, sie ist meist misogyn. Davon abgesehen stört mich der Begriff nicht, weil ich es für sehr interessant halte, seine eigenen erlebten Erfahrungen zu behandeln, so als gehe es um eine Romanfigur.
Ab dem 1995 erschienen Buch „Philippe“ über den Tod Ihres Sohnes kurz nach der Geburt begannen Sie, über persönlich Erlebtes zu schreiben. Wie kam dieser Wechsel?
Laurens: Ich habe zuvor drei eher klassische Kriminal- oder Detektivromane verfasst und verwob darin wie jeder Schriftsteller Elemente meines eigenen Erlebten, aber auf verdeckte Weise. Nach diesem tragischen Ereignis merkte ich, dass mir das nicht mehr möglich war, es erschien mir frivol, oberflächlich. Ich fragte mich, warum ich Figuren oder Handlungen erfinden sollte, wo es doch schon so viel in meinem eigenen Leben zu verstehen gibt. Marcel Proust sprach vom „inneren Buch“: Alles, was wir erlebt haben, ist dort abgedruckt. Das ist genau die Vorstellung, die ich von meiner Arbeit, die eine Berufung ist, habe: Mein inneres Buch in Worte zu übersetzen für die anderen und für mich selbst.
Sollte die Literatur eine Botschaft haben?
Laurens: Das glaube ich nicht und es ist beim Schreiben nicht mein erster Antrieb. Die Literatur an sich ist die Botschaft. Es gibt Bücher, die mir das Leben gerettet haben. In Momenten, in denen ich furchtbar unglücklich war, ermöglichten sie es mir, weiterzumachen. Ich hoffe, die Leser können ebenso etwas in meinen Büchern finden.
Viele Autorinnen engagieren sich oft lautstark bei politischen oder gesellschaftlichen Themen. Warum äußern Sie sich eher selten?
Laurens: Manchmal beziehe ich Position, vor allem für feministische Kämpfe, beispielsweise habe ich kürzlich an einem Theaterstück zur Unterstützung der iranischen Frauen teilgenommen. Aber mein Ort ist das Schreiben, ich möchte keinen öffentlichen politischen Diskurs führen. Das hindert mich nicht daran, Meinungen zu haben und auch auszudrücken. Von Liebe zu sprechen, das ist für mich politisch. Die Liebe ist eine fundamentale politische Frage.
Hat diese Frage Sie zum Schreiben Ihres Buchs „So wie du mich willst“ veranlasst?
Laurens: Mein Hauptthema sind die menschlichen Bande, ob es um jene der Liebe oder der Freundschaft geht. Die Liebe wird durch Probleme der Gesellschaft, durch Neurosen gestört. Die Antwort ist für mich, sie zu kultivieren, auch in dem Sinne, seinen Nächsten zu lieben, ohne dass ich besonders religiös bin. Das geht Hand in Hand mit der Toleranz. Die maximale Toleranz, von der der Philosoph Emmanuel Levinas sprach, könnte viele politische Probleme lösen. Es besorgt mich sehr zu sehen, wie die Solidarität verloren geht. Die Gesellschaft wird immer individualistischer, narzisstischer, es geht ihr um ihr eigenes Wohlbefinden und ihren Komfort.
Ist das auch eine Folge der sozialen Netzwerke, die in Ihrem Buch eine zentrale Rolle einnehmen?
Laurens: Ich bewerte sie nicht nur negativ, denn es sind auch Orte, wo man die ganze Welt treffen kann, Menschen, denen man sonst nie begegnet wäre. Aber diese Bande bleiben virtuell, unscharf, ermöglichen zu lügen. Das zeige ich in meinem Buch. Eine Frau kontaktiert darin einen jüngeren Mann über Facebook und gibt sich als eine andere aus. Sie spürt, dass sie mit dem Alter unsichtbar, nicht mehr begehrenswert geworden ist. Das ist sehr schmerzhaft, so als habe sie kein Recht mehr auf das Gefühl des Verliebtseins. Also versucht sie, eine Art Traum zu bewahren in einer Welt, in der die äußere Erscheinung zählt. Ich weiß, was diese Frau empfindet.
Das Buch ist sehr konstruiert mit mehreren Perspektivwechseln. Warum haben Sie diese Form gewählt?
Laurens: Es handelt sich um eine Architektur, eine Verschachtelung wie bei einer russischen Puppe: In einer Geschichte ist eine weitere Geschichte und noch eine weitere. Nur von einer Frau zu erzählen, die altert und sich nicht mehr liebenswert fühlt, erschien mir nicht ausreichend. Ich wollte die verschiedenen imaginären und realen Möglichkeiten für ein anderes Leben aufzeigen und einen komplexen Charakter erschaffen. Diese Frau manipuliert, aber leidet auch, sie kämpft, um sich nicht einem einzig möglichen Schicksal zu ergeben.
Sie sitzen in der Jury für Frankreichs wichtigsten Literaturpreis, den Prix Goncourt. Nehmen Sie große Trends in der Literatur wahr?
Laurens: Die literarischen Genres vermischen sich. Früher war der Goncourt ein Preis für einen Roman. Jetzt sind auf der Liste Berichte, Autobiografien, Autofiktionen. Annie Ernaux, die Literatur-Nobelpreisträgerin 2022, ist repräsentativ für die Tendenz, die Realität einzufangen, auch wenn ihr Schreiben literarisch bleibt. Die Leser misstrauen dem traditionellen Roman, sie wollen zunehmend eine Art Wahrheit. Ansonsten halten sie es für Manipulation.
Begegnet Ihnen diese Erwartung auch?
Laurens: Ja, sehr oft. Vielleicht kommt das von den Realityshows im Fernsehen. Einmal kam ich ins Gespräch mit einer Leserin, die meinen Roman „In den Armen der Männer“ sehr lobte. Zum Abschied sagte sie: „Grüßen Sie Ihre beiden Töchter!“ Als ich antwortete, dass ich nur eine Tochter habe, war sie sehr irritiert, denn die Ich-Erzählerin im Buch hat zwei. Die Leserin schien sich betrogen zu fühlen. Dabei hatte ich wohl Lust, mir im Roman eine zweite Tochter zu geben. Ich mag nicht aufdröseln, was der Realität entspricht und was nicht. Was zählt, ist das innere Buch, nicht das biografische Detail.