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Interview
"Die imperiale Politik Russlands ist ein Fluch für das Land selbst"
Der Historiker Martin Schulze Wessel sieht den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in einer langen Tradition, gespeist von einem Diskurs russischer Überlegenheit.
Richard Mayr
 |  aktualisiert: 11.03.2024 09:26 Uhr

Sehr geehrter Herr Prof. Schulze Wessel, Sie haben den Lehrstuhl für ost- und südosteuropäische Geschichte an der LMU München inne. Ich möchte mit Ihnen aus historischer Perspektive über den Ukraine-Krieg sprechen. Europa war geschockt, als Russland im Februar 2022 die Ukraine angegriffen hat. Wie haben Sie darauf reagiert?

Prof. Martin Schulze Wessel: Tatsächlich hat Putin im Juli 2021 mit dem Essay „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ eine unabhängige, demokratische Ukraine, die über ihr Schicksal selbst entscheidet, ausgeschlossen. Ich habe damals sofort einen Artikel verfasst, indem ich erklärt habe, dass dieser Essay von Putin als eine Ankündigung eines neuen Krieges zu verstehen ist. Insofern war ich nicht überrascht. Drei Tage vor dem Krieg habe ich ein Interview gegeben, in dem ich gesagt habe, dass die Invasion eine realistische Möglichkeit ist, mit der wir zu rechnen haben. Trotzdem war ich schockiert, als russische Panzer über die Grenze rollten.

Wenn Sie den Ukraine-Krieg aus historischer Perspektive betrachten, wie ordnen Sie ihn ein, wo sehen Sie Kontinuitäten? 

Schulze Wessel: Ich sehe eine Kontinuität insofern, als die russische Politik seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts die Ukraine als Teil des eigenen Imperiums und auch als Teil einer großrussischen Nation betrachtet. Das hat im Lauf der Jahrhunderte verschiedene Ausprägungen angenommen. Es hat Zeiten gegeben, in denen die Moskauer Zentrale föderale Beziehungen zu den nicht-russischen Territorien zugelassen hat - das war in den frühen 1920er Jahren, als die Sowjetunion gegründet wurde. Es hat andere Zeiten gegeben, in denen die Existenz der Ukraine von Moskau aus radikal negiert worden ist, etwa in der Stalinzeit am Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre, als die Ukraine gezielt ausgehungert wurde, was zu vier Millionen Toten führte. Wir befinden uns jetzt in einer Zeit, in der die russische Politik die Existenz der Ukraine als unabhängige, selbstbestimmte Nation infrage stellt.

Überrascht Sie, dass die Ukraine mit dieser Vorgeschichte ein starkes eigenes Nationalgefühl ausgeprägt hat und sich entschlossen gegen den Angriff wehrt? 

Schulze Wessel: Wie erfolgreich sich die Ukraine im ersten Kriegsjahr verteidigt hat, war für mich überraschend. Aber man muss auch sagen, dass die Ukraine schon lange eine Nation ist. Sie hat sich seit ihrer Unabhängigkeit 1991 als eine relativ stabile Demokratie etabliert, die sechs Herrschaftswechsel durch freie Wahlen hinbekommen hat, die letzten freien Wahlen sogar unter den Bedingungen des Krieges, der ja nicht 2022 begonnen hat, sondern mit der Annexion der Krim. Die Ukraine ist eine konsolidierte Demokratie bei allen Defiziten, die es weiter gibt. Was man in diesem Krieg beobachten konnte, ist, dass die kulturellen Unterschiede innerhalb der Ukraine zwischen Westen und Osten, zwischen Russisch sprechenden Ukrainern und Ukrainisch sprechenden Ukrainern, keine politische Rolle mehr spielen. Die Ukraine ist heute eine Nation mit einer einheitlichen Willensbildung, eine politische Nation.

Sie haben das Buch „Der Fluch des Imperiums“ geschrieben und führen darin aus, dass Russland bis heute eine imperiale Politik betreibt. Wie muss man sich den Fluch des Imperiums und der imperialen Politik vorstellen? 

Schulze Wessel: Russland versteht sich selbst als eine imperiale Macht und wendet ungeheuer hohe Ressourcen dafür auf, andere Länder zu beherrschen. Das ist nicht im wohlverstandenen Interesse der Russinnen und Russen, die auch an Werten wie Freiheit und Wohlstand interessiert sind, also ist diese imperiale Politik auch ein Fluch für das Land selbst. Für die russische Politik ist bezeichnend, dass Machtstrukturen eine große Rolle spielen, die Silowiki, die Machtstrukturen der Armee, der Geheimdienste, der Polizei. Dort gibt es einen Diskurs von russischer Überlegenheit, von russischer Dominanz gegenüber den Nachbarländern. Das betrifft insbesondere die Ukraine, aber auch andere Länder, die früher zur Sowjetunion gehört haben, wie z.B. die baltischen Staaten, wie Georgien, wie die Republik Moldau. Das wurzelt in der imperialen Kultur Russlands.

Was könnte passieren, wenn Russland den Ukrainekrieg gewinnt? 

Schulze Wessel: Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, wird dies der Ausgangspunkt für weitere Aggression sein. Die Schwelle für russische Aggressionen gegen Georgien oder die Republik Moldau oder die baltischen Staaten wird viel niedriger liegen. Wenn Russland den Krieg verliert, besteht die Möglichkeit, dass Putins Regime dadurch delegitimiert wird und dass sich der Weg öffnet für eine andere Zukunft Russlands. Wie diese aussehen kann, ist schwer vorherzusagen. Denkbar ist, dass Russland, nachdem die Kriegsschuldigen im Kreml bestraft worden sind und Reparationen für den Wiederaufbau der Ukraine geleistet wurden, eine zweite Chance für eine demokratische Entwicklung erhält, wenn seine Zivilgesellschaft dafür kämpft.

Wenn wir den Blick auf uns richten: In Deutschland hat Bundeskanzler Olaf Scholz von einer Zeitenwende gesprochen. Wie passend erscheint Ihnen dieser Begriff? 

Schulze Wessel: Der Begriff ist geeignet, um zu signalisieren, dass man mit den Traditionen der Russlandbindung radikal brechen will und eine europäische Politik zur Verteidigung der Unabhängigkeit und Freiheit der Ukraine führen will. Heute kommt es darauf an, dies mit der Entschlossenheit zu tun, die der Begriff der Zeitenwende signalisiert. Ich beobachte in der deutschen Politik gegenüber Russland eine sehr große Vorsichtigkeit. Man hat sehr lange gezögert, Kampfpanzer zu liefern. Damit hat die Ukraine wichtige Zeit verloren, um ihr Territorium zurückzugewinnen. Ich verstehe auch nicht die Weigerung der Bundesregierung, den Marschflugkörper Taurus zu liefern, der geeignet ist, die russische Logistik zu treffen. Die Lieferung wäre für die Ukraine ein wichtiger Beitrag, um die Angriffsfähigkeit Russlands zu vermindern. Die Politik der Bundesregierung ist darauf gerichtet, wie Olaf Scholz es formuliert hat, dass Russland den Krieg nicht gewinnen und die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf. Dieser Kurs führt zu einer humanitär nicht zu verantwortenden Verlängerung des Krieges in das Unabsehbare. Notwendig ist eine Politik, die die Ukraine entschlossen unterstützt und es ermöglicht, ihr Land zurückzuerobern.

Das heißt, die Zeitenwende ist noch nicht angebrochen? 

Schulze Wessel: Angebrochen schon, aber nicht vollzogen. Ich beobachte anders als in den ersten Monaten im Krieg, als sich sehr viel geändert hat, mittlerweile eine zunehmende Zögerlichkeit in der deutschen Politik, das erscheint wie eine Zeitenwende in der Zeitenwende.

Wenn man mit einer historischen Perspektive auf die Gegenwart blickt: Was müsste politisch jetzt geschehen? 

Schulze Wessel: Seit dem Ende des Kalten Kriegs ist Deutschland in einer neuen Situation. Es muss viel mehr politische Verantwortung übernehmen. Umso mehr, wenn die USA bei der Unterstützung der Ukraine ausfallen sollten. Es ist eine neue Situation für die deutsche Politik und Öffentlichkeit. Dass es nicht einfach ist, dieser Herausforderung zu begegnen, muss man der Politik zugestehen. Gleichwohl ist in dieser Situation Führung erforderlich, und Führung heißt, nicht mit dem Mainstream mitzulaufen, sondern eine klare Einsicht über Notwendigkeiten zu entwickeln und diese zu kommunizieren. Das geschieht bislang zu wenig.

 
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