
Frau Schmitz, der Film „Zone of Interest“ erzählt von den Verbrechen, die in Auschwitz-Birkenau begangen wurden. Im Fokus steht die Familie des Lagerkommandanten Rudolf Höß, die in einer Villa neben dem Lager lebte. Wie nah bewegt sich der Film an der historischen Realität?
Anna-Raphaela Schmitz: Natürlich sind viele Szenen fiktiv, aber es handelt sich um einen Spielfilm und nicht um eine Dokumentation. Der Film stellt das Grauen im Lager nur implizit dar und nähert sich dem Holocaust aus einem sehr spezifischen Blickwinkel, aber er hält sich stark an die historischen Überlieferungen und ist eindrucksvoll umgesetzt.
Wie viel ist denn über das Privatleben der Familie Höß bekannt?
Schmitz: Tatsächlich nicht viel. Es gibt nur wenige historische Quellen, weshalb sich das Leben der Familie aus heutiger Sicht nur eingeschränkt betrachten lässt.
Was sind die wichtigsten historischen Quellen?
Schmitz: Es gibt einige Fotos, die den Familienalltag dokumentieren, darunter eine Serie aus dem Garten der Villa. Man sieht die Kinder im Schwimmbecken planschen und mit einem Flugzeug spielen, das von Häftlingen gebaut wurde. Man sieht das Blumenparadies, das Hedwig Höß angelegt hatte. Der Film orientiert sich da sehr genau an den historischen Aufnahmen. Außerdem gibt es Aussagen von ehemaligen polnischen Hausangestellten und Überlebenden, die in der Kommandantenvilla arbeiten mussten.
Gibt es auch Aussagen von Mitgliedern der Familie Höß?
Schmitz: Von Rudolf Höß existieren autobiografische Aufzeichnungen, die er im Gefängnis geschrieben hatte, bevor er 1947 hingerichtet wurde. Für eine historische Einordnung sind biografische Schriften aber äußerst kritisch zu betrachten. Hedwig Höß hat sich, abgesehen von einer vagen Aussage beim Auschwitz-Prozess, nie öffentlich geäußert. Nur Tochter Ingebrigitt gab nach dem Krieg ein Interview. Darin erzählte sie, wie sie beim Baden im Fluss plötzlich von Asche umgeben war, die aus den Krematorien ins Wasser geleitet wurde. Das Erlebnis ist auch im Film eindrücklich dargestellt.
Das Grauen des Holocaust war im Familienleben allgegenwärtig, das zeigt der Film an mehreren Stellen. Trotzdem wollte das Ehepaar Auschwitz nicht verlassen?
Schmitz: Auch das ist historisch eindeutig. Rudolf Höß wurde Ende 1943 nach Oranienburg abberufen und versuchte vergeblich, die Versetzungspläne zu stoppen. Er wollte den Posten als Lagerkommandant nicht aufgeben und sah sich als alleinigen Spezialisten, um Auschwitz zu führen und den Massenmord zu organisieren. Über andere SS-Männer äußerte er sich abfällig, weil er sie als unfähig erachtete. Auch seine Frau wollte nicht weg aus Auschwitz und blieb mit den fünf Kinder allein zurück. Sie wollte das vergleichsweise luxuriöse Leben offenbar nicht aufgeben. Die Familie hatte ihren harmonischen Rückzugsort ausgerechnet an der Stätte des Massenmordes gefunden.
In einer Szene streift sich Hedwig Höß einen Pelzmantel über, in einer anderen spielt der Sohn mit Goldzähnen. Bereicherte sich die Familie am Besitz der Opfer?
Schmitz: Ja, davon zeugen Aussagen von Hausangestellten und Häftlingen, die das Hab und Gut zur Villa liefern mussten. Das Ehepaar Höß bediente sich massiv an Raubgütern aus dem Lager, an Kleidung und Lebensmitteln. Sie setzten Häftlinge auch als persönliche Arbeitskräfte ein.
Finden sich Elemente im Film, die historisch schlicht falsch sind?
Schmitz: Nein, an den Stellen, die historisch überliefert sind, hält sich der Film präzise an die Fakten. Aber natürlich enthält er fiktive Elemente. Dass Hedwigs Mutter zu Besuch kommt und überstürzt abreist, weil sie die Nähe zum Lager nicht aushält, lässt sich nicht belegen. Aber die Szene passt zum Film, denn sie verdeutlicht den Widerspruch zwischen der vermeintlichen Familienidylle und den grausamen Verbrechen, die in unmittelbarer Nähe begangen wurden.
Dieser Widerspruch drückt sich auch in den belanglosen Alltagsgesprächen aus. Da wird über Blumen im Garten und Urlaub in Italien geredet, aber über die Gräueltaten im Lager wird geschwiegen.
Schmitz: Das stimmt, auch da spiegelt sich die Banalität des Bösen wider, wie die Philosophin Hannah Arendt die massive Gleichgültigkeit bezeichnete, mit der die NS-Verbrechen begangen wurden.
Sind die Gespräche alle fiktiv oder sind manche Sätze überliefert?
Schmitz: Ein Großteil der Dialoge ist fiktiv, aber es gibt eine beeindruckende Szene, in der Hedwig Höß eine Hausangestellte angeht mit den Worten "Wenn ich wollte, würde mein Mann sofort deine Asche über den Feldern von Babice verstreuen". Dieser Satz wurde von einem Überlebenden bezeugt, ebenso wie ihre Aussage, die Angestellten wüssten gar nicht, wie gut sie es hätten. Auch die Kommandanturbefehle, die Rudolf Höß ins Telefon diktiert, sind protokolliert.
Blendet der Film die Opferperspektive zu stark aus?
Schmitz: Ich kann die Kritik verstehen, dass der Film stark aus der Täterperspektive erzählt und die Opfer nicht zu Wort kommen. Gleichwohl bin ich der Meinung, dass der Holocaust aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden muss. Wer sich mit der Frage beschäftigt, wie der Massenmord möglich war, muss die Täterperspektive miteinbeziehen. Der Film geht darüber hinaus und versucht, eine komplementäre Privatperspektive darzustellen. Er zeigt, wie das Leben nach Dienstschluss aussah und wie die Familienidylle den Dienstalltag befruchtete, indem sie den Anschein von Normalität weckte. Sie half den Tätern, sich nicht als Massenmörder, sondern als normale Personen wahrzunehmen. Dieser Blickwinkel macht den Film einzigartig.
Hat der Film auch Ihnen eine neue Perspektive eröffnet?
Schmitz: Auf jeden Fall. Ich hatte in meinem Buch versucht, genau diese Wechselwirkung aus Privatleben und Massenverbrechen darzulegen. Das nun visuell zu sehen, war beeindruckend und bedrückend zugleich.
Hat er einen Oscar verdient?
Schmitz: Die Macher haben jahrelang recherchiert, um die Geräuschkulisse so realistisch wie möglich nachzubilden. Das lässt niemanden unberührt. Auch die schauspielerische Leistung, insbesondere von Sandra Hüller, ist herausragend.
Welche Relevanz hat der Film für die Gegenwart?
Schmitz: Die Mehrheit derer, die am Holocaust beteiligt waren, waren nicht sadistisch oder psychopathisch veranlagt, sondern „normale“ Menschen. Das zeigt der Film sehr deutlich. Er kann damit auch als Warnung verstanden werden, denn Gewaltaktionen und Massenverbrechen werden immer auch von normalen Menschen begangen und mitgetragen.
Kann Kunst das Grauen des Holocaust jemals wirklich darstellen?
Schmitz: Man kann sich dem Holocaust und den begangenen Verbrechen nur annähern, in seiner Gänze lässt er sich nicht abbilden. Es werden immer Perspektiven fehlen, denn Millionen Menschen haben nicht überlebt, ihre Stimmen konnten nicht gehört werden.