
Herr Zimmermann, wie sind Sie dazu gekommen, Ihr kulturpolitisches Pflichtenheft zu schreiben?
Olaf Zimmermann: Es gibt eine seltsame Sichtweise auf Kulturpolitik, die man in anderen Politikfeldern nicht findet. Kulturpolitik verbindet man immer mit ein bisschen Glamour, rotem Teppich und Bussi Bussi. Viele glauben, dass es Kulturpolitik ist, wenn man schön über einen roten Teppich bei einem Filmfestival läuft. Das muss man machen, das ist wichtig. Aber Kulturpolitik ist auch normale politische Arbeit. Ich will in diesem Buch aufzeigen, was diese Pflichten sind.
Das Feld, das Sie bearbeiten, ist breit: Von der verfassungsmäßigen Kunstfreiheit bis hin zu den Belangen der Freien Szenen.
Zimmermann: Das ist ja das Wunderbare an Kulturpolitik, deswegen liebe ich das auch so. Sie ist unglaublich vielfältig. Es gibt Sachen, die gelten für alle, das sind die Werte, das ist die Würde des Menschen, auch die Freiheit der Kunst, auch, dass es keine Zensur geben darf. Es gehört auch dazu, dass wir uns gegen Rassismus und Antisemitismus im Kulturbereich stellen. Das ist mir persönlich sehr wichtig, um dort überhaupt kein Missverständnis zuzulassen. Aber wir müssen auch die gesamte Breite der Künste sehen, und das versuche ich eben auch: von der Hochkultur über die Freie Szene bis zu den Computerspielen.
Ist im Jahr 2023 jedem klar, dass Computerspiele ein Teil der Kulturpolitik sind?
Zimmermann: Vor 15 Jahren hat diese Debatte angefangen. Heute ist das für den Kulturbereich vollkommen klar. In meinem Buch stelle ich aber die ketzerische Frage, ob das allen im Computerspiele-Bereich auch wirklich klar ist. Alle, die an einem Film beteiligt sind, sehen sich als Kreative. Von dieser Haltung ist der Computerspiele-Bereich noch weit weg. Aber es ist wichtig, dass sich das entwickelt.
Für wen haben Sie das kulturpolitische Pflichtenheft geschrieben?
Zimmermann: Für dieses Buch muss man nicht Kulturpolitiker sein, es soll in den gesamten Kulturbereich hineinwirken und Diskussionen im Kulturbereich anregen. Nehmen Sie das Kapitel zur Documenta und zum Antisemitismus. Das ist kein Appell an die Politik, sondern an uns selbst, dass wir im Kulturbereich tätig werden und vernünftige Strukturen einziehen müssen, damit uns so was, wie im letzten Jahr bei der Documenta nicht noch einmal passiert.
Wobei von verfassungsrechtlicher Seite gesagt wurde, dass man das Präsentieren antisemitischer Kunstwerke nicht hätte verbieten dürfen.
Zimmermann: Soweit soll es in Zukunft gar nicht kommen. Weder die Documenta noch Kunstwerke sollen verboten werden. Es ist aber unsere Aufgabe, Verantwortung zu übernehmen. Das ist bei der letztjährigen Documenta in 100 Tagen nicht gelungen. Der Kulturbereich hat keine Verantwortung für diese Schau in Gänze übernommen. Man muss, wenn man dort solche antisemitischen Kunstwerke hat, sie in einen Kontext stellen. Auch jetzt nach Ende der Documenta gibt es keine wirkliche Aufarbeitung. Das halte ich für sehr problematisch.
Sehen Sie, dass da schon gearbeitet wird in die Richtung?
Zimmermann: Die Kulturstaatsministerin hat gesagt, dass sie nur noch Bundesmittel zur Verfügung stellt, wenn die Verantwortungsfrage klar geregelt ist. Die Kulturministerin von Hessen, Frau Dorn, hat auch gesagt, dass es zu einer Veränderung kommen muss. Glücklicherweise gibt es einen neuen Oberbürgermeister in Kassel. Vielleicht ist es jetzt möglich, mit ihm in einer anderen Art und Weise als mit seinem Vorgänger über die Zukunft der Documenta zu sprechen. Ich mache in meinem Buch zum Beispiel den Vorschlag, die Documenta in eine neue Rechtsform zu überführen, nämlich in eine Stiftung des bürgerlichen Rechtes. Dann könnten andere zivilgesellschaftliche Partner mithelfen, die Freiheit der Documenta unter klaren Regeln, nämlich kein Rassismus, kein Antisemitismus, zu organisieren.
Die Documenta ist ein weltweites Aushängeschild. In Ihrem Pflichtenheft geht es aber auch über das Ehrenamt, dem Sie eine wichtige Rolle in der Kulturlandschaft Deutschland zusprechen.
Zimmermann: Das Ehrenamt, das bürgerschaftliche Engagement wird im Kulturbereich immer noch massiv unterschätzt. Es ist konstitutiv für uns Demokratie. Wir müssen uns ehrlich machen, wir haben in der Pandemie das bürgerschaftliche Engagement nicht so in das Blickfeld genommen wie die anderen Kulturbereiche. Das kann man daran sehen, dass es viel weniger Unterstützung für bürgerschaftlich engagierte Strukturen im Kulturbereich in der Pandemie gegeben hat als für Theater, Museen, für Bildende Künstler und so weiter. Deswegen ist die Situation dort im Moment nicht so toll.
Was beobachten Sie da?
Zimmermann: Es kommt schwer wieder in Gang. Zwei, drei Jahre lang haben sich viele überhaupt nicht mehr treffen können, haben keine Proben mehr abhalten können. Dann bricht das aber auseinander. Da müssen wir jetzt etwas dagegenhalten.
Wenn man in Großstädten über Kulturpolitik spricht, hat man das bürgerschaftliche Engagement nie im Blick, weil die großen städtischen Leuchttürme die gesamte Aufmerksamkeit und einen großen Teil der Fördergelder bekommen. Aber auf den Dörfern ist es ja oft das Ehrenamt, dass die Kultur trägt und dort sichtbar macht.
Zimmermann: Es ist wichtig ist, dass wir das in der Kulturpolitik sehen. Es ist wichtig, dass wir die Leuchttürme unterstützen, damit sie ins ganze Land hineinstrahlen. Aber das ist nur ein Teil der kulturellen Wirklichkeit. Ein erheblicher Teil der Kulturarbeit wird im ländlichen Raum gemacht. Dafür sind ehrenamtliche Strukturen besonders wichtig, weil man vieles gar nicht hauptamtlich finanzieren kann. Deswegen ist es so bitter, dass es in diesem Bereich einen größeren Einbruch nach der Pandemie gibt. Ich hoffe, dass wir das in den nächsten Jahren ausgleichen können.
Und um noch ein wichtiges Feld der Gegenwart anzusprechen. Wie verhält es sich mit Nachhaltigkeit und der Kulturpolitik?
Zimmermann: Von unserem Anspruch her müssen wir Vorreiter im Bereich der Nachhaltigkeit sein – sind es aber nicht. Wir haben durchdrungen, wie wichtig der verantwortungsvolle Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten ist. Viele im Kulturbereich geben sich erhebliche Mühe. Wir versuchen, unsere Strukturen umzustellen. Aber wir bauen neue Kultureinrichtungen, die leider gar nicht nachhaltig sind, etwa in Berlin gerade. Wir müssen eine Kooperation eingehen. Der Umweltbereich und der Kulturbereich sind natürliche Partner und Freunde. Wenn wir wollen, dass die Menschen in einer Gesellschaft das Thema Klimaschutz auch leben, dann geht es nicht nur um ein Wissen, sondern es geht auch um einen kulturellen Wandel.
Es gäbe noch so viele Punkte aus Ihrem Buch anzusprechen, welcher ist Ihnen besonders wichtig?
Zimmermann: Worüber wir noch nicht gesprochen haben, ist die Inklusion. Ungefähr knapp zehn Prozent der in Deutschland lebenden Menschen sind behindert, das vergessen wir immer. Zehn Prozent ist wahnsinnig viel. Wir müssen auch für sie Zugänge schaffen. Auf der Rückseite meines Buches gibt es einen Braille-Code, der einen dann zu einer digitalen Version des Buchs geleitet, die extrem vergrößert oder vorgelesen werden kann. Das war mir wichtig, weil ich über Inklusion nicht nur theoretisch schreiben wollte.