Herr Barenboim, was waren die Motive für Sie, als Sie vor 25 Jahren zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Edward Said das West-Eastern Divan Orchestra gegründet haben?
Daniel Barenboim: 1999 war Edwards und mein Ziel gar nicht die Gründung eines Orchesters, sondern erst mal ein Workshop für junge Musiker, um die Koexistenz und den interkulturellen Dialog zu fördern. Es war gewissermaßen ein Experiment – das, was daraus gewachsen ist, dieses unglaubliche Orchester, das hätten wir uns damals nicht träumen lassen.
Weshalb eignet sich gerade Musik – konkreter noch: die Musik der europäischen Klassik –, um der Feindschaft zwischen verschiedenen Völkern zu begegnen?
Barenboim: In der Musik sind wir alle gleich, egal, welchen sozialen, politischen, kulturellen oder ethnischen Hintergrund wir haben. Die Musik erfordert, dass wir einander zuhören und auf Augenhöhe begegnen, ohne Vorbehalte und mit einem gemeinsamen Ziel. Das ist eine wunderbare Grundlage für den Beginn eines Dialogs.
Konflikte zwischen Israel und Palästinensern hat es während des Bestehens des West-Eastern Divan Orchestra immer gegeben. Der Überfall der Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres aber markiert einen besonderen Einschnitt. Wie haben die Mitglieder des Orchesters darauf reagiert?
Barenboim: Ich bin zutiefst berührt und beeindruckt, mit welcher Menschlichkeit, welchem Mitgefühl und welcher Offenheit sich die Musiker bei den Proben in Berlin vor ein paar Wochen begegnet sind. Alle Musikerinnen und Musiker sind auf irgendeine Art direkt betroffen, die Stimmung im Orchester hätte extrem angespannt sein können. Natürlich gab es viele Diskussionen, das haben wir aktiv organisiert und gefördert; aber sie waren alle von Respekt geprägt.
Unmittelbar nach dem Überfall der Hamas gab es Berichte in den Medien, dass nicht-israelische Orchestermitglieder sich hinter den Überfall gestellt haben sollen. Wie hat das Orchester, wie haben Sie reagiert?
Barenboim: Niemand im Orchester hat den terroristischen Angriff der Hamas verteidigt. Aber natürlich stellen wir die schrecklichen Ereignisse des 7. Oktober und die darauffolgende Invasion des Gazastreifens in einen größeren Kontext. Wir sprechen miteinander und haben immer den Konsens, dass wir einander unsere Humanität niemals absprechen.
Was ist Ihre Ansicht: Wie können die beiden Völker in der aktuellen Situation herausfinden aus der Spirale der Gewalt?
Barenboim: Es muss einen radikalen Neubeginn geben. Zunächst natürlich braucht es einen sofortigen Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln. Dann aber müssen endlich wieder ernsthafte Gespräche über einen dauerhaften Frieden geführt werden – und das geht nur, wenn den Palästinensern ein eigener, gleichwertiger Staat zugesprochen wird.
Sie sind mit dem West-Eastern Divan Orchestra in vielen Ländern zu Gast gewesen, nie jedoch in Israel. Was ist der Grund dafür?
Barenboim: Es ist ein praktischer Grund: Einige unserer Musikerinnen und Musiker dürfen leider nicht einreisen, und wir wollen nur auftreten, wenn alle spielen können.
Um noch einmal auf die Musik zurückzukommen: Sie, Herr Barenboim, haben alle bedeutenden Orchester der Welt dirigiert. Jedes Orchester hat seinen eigenen Klang und seine eigene Herangehensweise an die Musik. Wie würden Sie diesbezüglich das West-Eastern Divan Orchestra beschreiben?
Barenboim: Das Orchester ist absolut einzigartig: das bedingungslose Engagement jedes einzelnen Musikers, ihr absoluter Wille, einen gemeinsamen Klang zu schaffen, aufeinander zu hören. Das Orchester ist über die Jahre wirklich zu einem Klangkörper geworden, der mit den besten Orchestern der Welt mithalten kann.
Aus gesundheitlichen Gründen haben Sie im vergangenen Jahr Ihr Amt als Musikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden niedergelegt. Wie ist es, langfristig gesehen, um das West-Eastern Divan Orchestra bestellt, ein Orchester, das symbiotisch mit dem Namen von Daniel Barenboim verknüpft ist?
Barenboim: Ich bleibe dem Divan verbunden, solange ich kann. Natürlich aber ist es mir ein Anliegen, dass das Orchester auch lange in der Zukunft weiter auftritt, und wir beschäftigen uns gerade eingehend damit, wie auch das Orchester selbst seine Zukunft sieht. Es ist ein spannender Prozess.